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5 Mal so viele Hartz-4-Anträge wie sonst: Jobcenter kämpfen mit Corona-Ansturm

Die Hartz 4 Anträge in den Jobcentern sind enorm gestiegen.
Wegen der Corona-Krise sind die Jobcenter aktuell geschlossen. Dennoch arbeiten den Mitarbeiter im Homeoffice auf Hochtouren. (Symbolbild)Bild: www.imago-images.de / Oliver Baumgart
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5 Mal so viele Hartz-IV-Anträge wie sonst: Jobcenter kämpfen mit Arbeitslosen-Ansturm

10.05.2020, 14:1711.05.2020, 09:55
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Es ist nahezu ironisch: Nun, mit der schrittweisen Lockerung der Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus, treten zunehmend die verheerenden wirtschaftlichen Ausmaße der Krise in den Vordergrund. Am Mittwoch prognostizierte die EU-Kommission einen historischen Einbruch der Wirtschaftsleistung von bis zu 7,75 Prozent in allen Mitgliedsstaaten. Damit einhergehen wird auch ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen.

Gespürt haben das in Deutschland vor allem Menschen, die in von der Corona-Krise besonders betroffenen Branchen arbeiten: Wer im Veranstaltungsbereich oder der Gastronomie tätig ist oder generell viel in Kundenkontakt kommt, ist finanziell mit am meisten bedroht. Genauso wie diejenigen, die im Kunst- und Kultursektor arbeiten. Gerade Selbstständige sind oftmals nicht genügend gegen Arbeitslosigkeit abgesichert und landen schnell bei Hartz IV, wie das Arbeitslosengeld II umgangssprachlich genannt wird.

Bundesweit erleben Jobcenter einen Anstieg der Hartz-IV-Anträge

Jobcenter erleben während der Corona-Pandemie teilweise eine Flut von Neuanträge: Bis zu fünfmal so viele Menschen wie sonst bemühen sich aktuell um soziale Leistungen zur Grundsicherung. Das berichten unter anderem die Jobcenter aus München und Frankfurt gegenüber watson.

"Die Anträge auf Arbeitslosengeld II sind seit Mitte März 2020 sprunghaft um das Fünffache angestiegen."
Sprecher Jobcenter Frankfurt

Vom Jobcenter Frankfurt heißt es zudem, dass der Anstieg seit der Osterwoche geringer sei. "Die Zahlen liegen aber noch deutlich über denen vor den Einschränkungen aufgrund der Pandemie."

Laut des Jobcenters in München "ergeben sich existentielle Problemstellungen für ganz neue Personengruppen", sagt ein Sprecher. "Schon nach kurzer Zeit ist die Anzahl von Nachfragen durch Freiberufler, Solo-Selbstständige und Kurzarbeiter im Jobcenter München spürbar angestiegen." In den ersten vier Wochen seit dem Inkrafttreten des Sozialschutz-Paketes, das vor allem Kleinunternehmer und Solo-Selbstständige während der Corona-Pandemie finanziell unterstützen soll, seien rund 4700 Neuanträge auf Arbeitslosengeld II beim Jobcenter München eingegangen. Auch "dies entspricht einer Verfünffachung des sonst üblichen Monatsdurchschnitts."

So versuchen Jobcenter nun, die Antragsflut zu bewältigen

Aufgrund der Maßnahmen zur Abflachung der pandemischen Welle haben die Jobcenter landesweit geschlossen, die Mitarbeiter führen ihre Arbeit nun vorrangig telefonisch oder online von zu Hause aus fort. Das Jobcenter in Bremen beispielsweise, das ebenfalls einen Anstieg der Neuanträge feststellt, hat zu diesem Anlass extra eine neue Telefon-Hotline eingerichtet, bei der sich Neukunden beraten lassen können: "Dahinter verbirgt sich eine Art Call-Center, in dem die Mitarbeitenden der Jobcenter-Geschäftsstellen auf die telefonischen Anfragen reagieren", erklärt eine Sprecherin.

"Wir spüren deutlich die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Durch die Kontaktbeschränkungen stellen mehr Menschen Anträge, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen."
Thorsten Spinn, stellvertretender Geschäftsführer vom Jobcenter Bremen

Berlin reagiert auf den sprunghaften Anstieg der Anträge, indem die dortigen Jobcenter personell aufstocken sowie die Arbeitszeiten ausdehnen: Werktags kümmern sich die Mitarbeiter nun bis 22 Uhr um die Bearbeitung der Anträge, zusätzlich gibt es Samstagsschichten.

"Viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten auf freiwilliger Basis länger und mehr und leisten hier wirklich Außerordentliches."
Sprecherin Jobcenter Berlin

Auch München hat laut Aussagen eines Sprechers eine eigene Hotline mit erweiterten Sprechzeiten für Neukunden eingerichtet. Das ist allerdings nicht die einzige Lösung, mit der das Jobcenter dem steigenden Personalbedarf begegnet. Zu watson sagt eine Sprecherin:

"Zum einen haben wir ehemalige Leistungssachbearbeiterinnen und Leistungssachbearbeiter reaktiviert und im Leistungsbereich eingesetzt. Weiterhin schulen wir Eingangszonenkräfte, Fachkräfte aus dem Bereich Markt und Integration, um Tätigkeiten aus dem Leistungsumfeld übernehmen zu können."

Weiterhin stellen sich rund 50 Prozent der Kolleginnen und Kollegen aus anderen Arbeitsbereichen zur Verfügung, um Tätigkeiten im Leistungsumfeld, also bei der Bearbeitung der Hartz-IV-Anträge, zu erledigen. Auch die Möglichkeit einer vorläufigen Leistungsbewilligung werde fallbezogen geprüft.

Vorübergehende Regelungen sollen Prüfung der Hartz-IV-Anträge erleichtern

Bundesweit wird zudem die Vermögensprüfung, wie sie bei Antragsstellung auf Hartz IV üblich ist, ausgesetzt. Vonseiten der Bundesagentur für Arbeit (BA) heißt es:

"Wer ab dem 1. März 2020 bis einschließlich zum 30. Juni 2020 einen Neuantrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende stellt, für den entfällt für die ersten sechs Monate die Vermögensprüfung, wenn erklärt wird, dass kein erhebliches Vermögen verfügbar ist."

Auch sei der Grundantrag überarbeitet, vereinfacht und verkürzt worden. Diese vorübergehenden Maßnahmen erleichtert den Bearbeitungsprozess und können so dazu beitragen, dass Anträge schneller bearbeitet werden. "Wenn alle Unterlagen vorliegen, wird sehr schnell bewilligt. In der Regel innerhalb von zwei Wochen", sagt der Sprecher der BA.

Zumindest, was die Bearbeitung der Anträge angeht, haben die Jobcenter Maßnahmen getroffen, um der erhöhten Anzahl von Anfragen entgegenzukommen. Wie viele der Anträge nun tatsächlich bewilligt werden und wie sich das auf die tatsächliche Zahl der Hartz-IV-Empfänger in Deutschland auswirkt, ist noch nicht klar. Die BA sagt gegenüber watson, dass die genauere Anzahl nur mit zeitlicher Verzögerung ermittelt werden könne:

"Zahlen zur Gesamtsumme der Anträge können wir aus den statistischen Daten noch nicht abbilden. Sicher ist, dass die Zahl der Anträge zugenommen hat."

Obwohl nun mit einem starken Anstieg der Arbeitslosengeld-II-Empfänger gerechnet werden muss, zeigen sich die Jobcenter zuversichtlich, der Krise standhalten zu können. Aus München heißt es: "Die Leistungsgewährung für unsere Kunden ist zu jeder Zeit sichergestellt. Niemand muss fürchten, dass die Krise, die für einige ohnehin existenziell ist, durch die Regeln in der Grundsicherung weiter verschärft wird."

"Niemand muss ins Bodenlose fallen – das zeigt doch, dass das soziale Netz in München hält."
Sprecher Jobcenter München

Auch der stellvertretende Geschäftsführer des Jobcenters in Bremen, Thorsten Spinn, sagt: "Zum aktuellen Zeitpunkt sehe ich keinen Grund, dass es zu Engpässen kommen könnte."

Das Jobcenter in Berlin kann jetzt schon sagen, dass sich die zusätzlichen Online-Angebote und die Telefonie in den Arbeitsagenturen und Jobcenter bewährt hätten. "Insofern fühlen wir uns gut aufgestellt." Laut der BA gibt es nach aktuellem Stand keinen Grund zur Sorge, dass Arbeitslose finanziell nicht versorgt werden könnten. Der Sprecher der BA gegenüber watson:

"Die Jobcenter sorgen dafür, dass die Leistungen kurzfristig und verlässlich ausgezahlt werden. Zu Engpässen wird es nicht kommen, da die Gelder bereitstehen, die benötigt werden."

Auch wenn die Ausschüttung von Hartz-IV-Gelder nicht akut bedroht ist: Den zahlreichen Selbstständigen, die sich nun mit Anträgen um finanzielle Leistungen bemühen, wird es die Sorgen vermutlich zunächst nicht nehmen. Bleibt zu hoffen, dass die anstehenden Lockerungen der Corona-Maßnahmen stillstehende Wirtschaftszweige wiederbeleben, ohne, dass die Infektionszahlen wieder steigen.

Juso-Chef macht CDU klare Ansage bei Bürgergeld-Debatte

Die CDU will ans Bürger:innen-Geld ran. Schon vor der Reform der Sozialhilfe – und damit dem Ende von Hartz-IV – hatte sich die Union gegen die Ampel-Pläne gewehrt. Im Zuge des Gesetzgebungsprozesses mussten die Koalitionäre daher einige Reformideen wieder zurückschrauben. Seit über einem Jahr gibt es nun das neue Bürger:innen-Geld und die Union ist offensichtlich nicht zufrieden damit.

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