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Horst Seehofer: Warum er nicht zur Hassfigur taugt

German Interior Minister Horst Seehofer holds a news conference on the situation of migrants on the Greek island of Lesbos in Berlin, Germany, September 11, 2020. Joerg Carstensen/Pool via REUTERS
Horst Seehofer ist seit 2018 Bundesinnenminister.Bild: reuters / POOL
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Warum Horst Seehofer nicht zur Hassfigur taugt

Wenig ist bei Linken so beliebt wie Sprüche gegen den CSU-Innenminister zu klopfen. Dabei ist er besser als sein Ruf. Vor allem aus drei Gründen.
23.09.2020, 10:38
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Sprüche gegen Horst Seehofer zu klopfen, das ist ein beliebtes Hobby vieler Menschen, die sich für progressiv halten. Dass der Seehofer ein Menschenfeind sei, ein verkappter Rassist, dass er längst zurücktreten müsse: Wer solche Sätze am Küchen- oder Kneipentisch neben Gleichgesinnten fallen lässt oder in eine Instagram-Story packt, dem stimmen schnell viele Menschen zu.

Vor allem, seit Anfang September das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos in Flammen aufgegangen ist, ist der 71-jährige Bundesinnenminister von der CSU wieder zum Ziel der Verachtung linker Menschen in Deutschland geworden. Weil Seehofer in ihren Augen bremst bei der Aufnahme Geflüchteter, weil er deutschen Städten nicht erlauben will, deutlich mehr in Griechenland gestrandete Menschen zu sich zu holen.

Man kann Seehofer für vieles kritisieren – für seine sture Haltung im Streit mit Kanzlerin Angela Merkel zwischen 2015 und 2018, für verbale Ausrutscher wie den Satz, Migration sei die "Mutter aller Probleme", den er vor zwei Jahren sagte. Aber ein Rassist und Menschenfeind ist er nicht. Der Bayer aus Ingolstadt, der seit den 1990er-Jahren eine feste Größe in der deutschen Politik ist, ist deutlich besser als sein Ruf.

Dafür gibt es vor allem drei Gründe.

Seehofer ist ein Vollblut-Demokrat

Der CSU, die seit über sechs Jahrzehnten Bayern regiert, hat man oft Arroganz vorgeworfen – und ziemlich oft auch zurecht. Die Partei tut oft so, als habe sie die bayerischen Alpen selbst aufgefaltet. Und wenn in den 1980er-Jahren der damalige CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß von Demonstranten ausgepfiffen wurde, dann brüllte er ihnen schon mal entgegen: "Ihr wärt die besten Nazis gewesen!" Oder er nannte linke Schriftsteller "Ratten und Schmeißfliegen". Horst Seehofer ist anders.

Seehofer spricht gern mit Menschen. Auch mit denen, die anderer Meinung sind. Wenn er als Ministerpräsident zu Veranstaltungen kam, bei denen Demonstranten standen, dann ging er oft schnurstracks auf sie zu – und unterhielt sich mit ihnen. Im Oktober 2018, Seehofer war schon Bundesinnenminister, gab es eine besonders bemerkenswerte Szene, die mehrere Journalisten beschrieben haben: Als er seine Rede zum Abschluss des CSU-Wahlkampfs für die Landtagswahl beendet hatte, stand plötzlich eine Demonstrantin vor ihm, grüne Haare und eine Lederjacke, auf deren Rücken "Fick Dich" stand. Seehofer setzte sich mit der Frau an einen Tisch, hörte sich ihre Kritik an seiner Flüchtlingspolitik an, brachte seine Argumente vor.

Seehofer ist ein Vollblutdemokrat. Einer, dem es ernst ist mit der Politik – und der aus Prinzipientreue schon mal auf Macht verzichtet hat: 2004 hörte er als Fraktionsvize der Union auf, weil CDU und CSU damals die Krankenversicherung umbauen und die Beiträge vom Einkommen unabhängig machen wollten. Seehofer, der Sozialpolitiker, fand das (zurecht) sozial ungerecht. Eine Anhängerin der Pläne, die (zum Glück) bis heute nicht umgesetzt worden sind, war damals übrigens Angela Merkel.

Seehofer nimmt den Kampf gegen Rechtsextremismus ernst

"Der Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland": Dass ausgerechnet ein CSU-Politiker diesen Satz sagt, das wäre jahrzehntelang schwer denkbar gewesen. Seehofer hat das als Innenminister getan, mehrfach, zuletzt im Juli.

Seehofers Vor-Vorgänger im Amt, sein Parteifreund Hans-Peter Friedrich, hatte kaum Lehren gezogen aus dem jahrelangen tödlichen Versagen von Ermittlern und Verfassungsschutz im Umgang mit den NSU-Terroristen, die mordend durchs Land zogen. Seehofer hat gehandelt, nach dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke und dem rassistischen Anschlag von Hanau: Unter anderem mit einer Zentralstelle, die Rechtsextreme im öffentlichen Dienst aufspüren soll.

Richtig ist, dass Seehofer im Jahr 2018 zu lange an dem rechtslastigen Hans-Georg Maaßen als Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz festgehalten hat, selbst nach dessen unsäglichen Kleinreden des rassistischen Mobs von Chemnitz. Aber er hat Maaßen immerhin wenig später abgelöst, nachdem der die SPD verunglimpft hatte – und ihn ersetzt durch Thomas Haldenwang. Dem bescheinigen sogar Politiker aus der Opposition, dass er zwei Gänge hochgeschaltet hat im Kampf des demokratischen Staats gegen Rechtsextreme.

Auch heute kann man viel von dem kritisieren, was Seehofer tut. Etwa, dass er eine bundesweite Studie zu Rechtsextremismus in der Polizei ablehnt – und lieber die gesamte Gesellschaft unter die Lupe nehmen will. Aber wer ihm vorwirft, er verharmlose Rechtsextremisten, liegt falsch. Und wer Seehofer sogar eine rechte Gesinnung vorwirft, der verleumdet ihn.

Seehofer hat bei der Flüchtlingspolitik dazugelernt

Im Sommer 2018 wäre wegen Horst Seehofer fast die Bundesregierung zerbrochen. Seehofer, damals schon Innenminister und noch Chef der CSU, bestand darauf, dass Flüchtlinge im Alleingang an der deutschen Grenzen abgewiesen werden können, wenn sie schon in einem anderen EU-Land registriert sind. Kanzlerin Merkel war dagegen. Am Ende einigten sich beide: Zurückweisung ja, aber nur, wenn es einen Vertrag mit dem aufnehmenden Land gibt.

Ein Jahr später sagte Seehofer: "Es ist doch unglaublich, wenn man sich als Politiker für die Rettung von Ertrinkenden rechtfertigen muss." Er empfing den deutschen Seenotretter Claus-Peter Reisch im Innenministerium, er handelte mit Italien und Frankreich ein erstes Abkommen zur Flüchtlingspolitik aus. Er entwickelte einen Plan, um die Verteilung Geflüchteter neu zu organisieren, mit festen Verteilungsquoten innerhalb der EU. Und er will, dass die EU-Länder, die keine Menschen aufnehmen, Geld für deren Unterbringung bezahlen.

Seit er Innenminister ist, hat Seehofer verstanden, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer europäischen Lösung in der Asylpolitik besteht. Er hat begriffen, dass bei diesem Thema nationaler Egoismus am Ende niemanden weiterbringt. Und deswegen glaubt er auch, dass es am Ende schlecht wäre, wenn Deutschland jetzt ganz alleine tausende Geflüchtete aus Griechenland aufnimmt, weil ihn einzelne deutsche Städte und Gemeinden dazu drängen. Weil sonst, so sein Argument, andere EU-Staaten glauben könnten, dass am Ende die Deutschen ja wieder die meisten aufnehmen.

Mit seiner Position hat sich Seehofer zum Buhmann für Linke gemacht, die sich eine Welt der offenen Grenzen für alle wünschen – und für Rechtskonservative, denen er inzwischen viel zu flüchtlingsfreundlich ist.

Auch beim Thema Flucht und Asyl kann man Seehofers Linie kritisieren. Aber dabei sollte man erstens bedenken, dass Seehofers Position bei diesem Thema inzwischen weitgehend dieselbe ist wie die von Kanzlerin Merkel. Und zweitens sollte man sich zumindest mit den Argumenten beschäftigen, die Seehofer für seine Linie hat. Und ihn nicht als Menschenfeind betiteln.

Das hat der Mann wirklich nicht verdient.

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