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Sachsen: AfD-Erfolg bei jungen Wählern – Jugendhelfer warnten schon vor Jahren

KOETHEN, GERMANY - SEPTEMBER 16: Protesters gather to participate in a march organized by the right-wing AfD political party as well as the right-wing Pegida and "Zukunft Heimat" movements t ...
Bild: Getty Images Europe
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"Unterwanderung durch Neonazis" – Sachsens Jugendhelfer warnten in Dokument vor Rechtsruck

06.09.2019, 08:4206.09.2019, 16:27
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Bei Sascha Rusch melden sich Streetworker, wenn sie lernen wollen, mit rechtsradikalen Stammtisch-Parolen umzugehen. Rusch hat 17 Jahre in Dresden mit jungen Leuten auf der Straße gearbeitet, jetzt bringt er anderen für den Fachverband Mobile Jugendarbeit dasselbe bei. In Workshops beantwortet er Fragen: "Wie kann ich einen Jugendlichen aufklären, der überzeugt ist, dass alle Polen klauen?", oder: "Wie gehe ich mit Rechtsradikalen in Jugendgruppen und Cliquen um?"

Gerade haben junge Wählerinnen und Wähler aus Sachsen für Schlagzeilen gesorgt, weil die ebenfalls in weiten Teilen rechtsradikale AfD bei den Unter-30-Jährigen sogar stärkste Kraft wurde. In Sachsen, so registrierten erstmals viele Deutsche, sind die "Alternativen" nicht nur eine große, sondern auch eine sehr junge Partei.

Streetworker Rusch fragt:

"Warum bitte wundern sich die Leute jetzt erst über diese rechten Einstellungen? Das ist hier seit Jahren unser täglich Brot."

Auch andere Experten sind überrascht über die Überraschung. Sie schlagen im Osten schon lange Alarm, weil Rechtsradikale und Neonazis die Jugendarbeit im Bundesland unterwandern. Streetworker Rusch sagt: "Flankiert werden diese Versuche schon seit Jahren von der immer stärker werdenden AfD."

Auch die Landesregierung kennt das Problem durchaus. Vergangenes Jahr erst stockte sie den Etat des 2005 entstandenen Programms "Weltoffenes Sachsen" noch einmal auf. Das Geld fließt auch in die Jugendarbeit. Deren Vertreter loben gegenüber watson dementsprechend: Unter CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer habe sich der Dialog zwischen Organisationen und Politik verbessert.

"Einzelne gut finanzierte Projekte können aber unmöglich Jahre der Unterversorgung der Jugendarbeit in Sachsen wettmachen", sagt Andreas Borchert von der Landjugend. Eine Strategie gegen die Ausbreitung von rechtsradikalem Gedankengut existiere noch immer nicht. Stattdessen setzten sich Vorurteile und "hegemoniale Deutungen rechtsradikaler Gruppen" unter jungen Leuten immer weiter durch.

Eine Warnung kam bereits vor über zwei Jahren in einem brisanten Papier...

Im Sommer 2017 wendet sich eine ganze Allianz an Organisationen mit Sorge an die Öffentlichkeit und die sächsische Landesregierung. In einem offenen Schreiben melden sich damals die Landjugend, die AG Jugendfreizeitstätten (AGJF), das Kulturbüro und die "Mobile Jugendarbeit" Sachsens zu Wort.

Das Schreiben, ihr "Policy Paper", liest sich wie ein dystopischer Roman. Groß aufgegriffen wird das Dokument nach Erscheinen allerdings nicht. Zwei Jahre später beschreibt es die Situation perfekt, die der AfD so viele junge Wählerstimmen verschaffte:

  • Von "Unterwanderungsversuchen der Jugendarbeit" durch die Neonazi-Szene ist da die Rede, die es so nicht einmal in den 90er Jahren gegeben habe.
  • "Hinzu kommen Bestrebungen an Standorten, öffentlich geförderte 'nationale Jugendarbeit' aufzubauen", schreiben die Verfasser.
  • Die passenden Zahlen liefert der "Sachsen Monitor" aus dem Jahr 2016: Dort gab die Gruppe der 18- bis 29-Jährigen mit großem Abstand das Thema "Asylpolitik/zu viele Ausländer/Überfremdung" als wichtigstes Problem in Sachsen an. Dabei beträgt der Anteil an Ausländern dort gerade einmal 4,9 Prozent und ist damit viel kleiner als im Rest der Republik. Dennoch stimmten 32 Prozent der jungen Leute der Aussage zu, dass es in ihrer Wohnumgebung ein "gefährliches Maß an Überfremdung" gebe.

Jetzt, nach den Wahlen, scheint klar: Diese Xenophobie junger Menschen hat offenbar mit der AfD ein Sprachrohr gefunden. Bei den Wahlberechtigten unter 30 Jahren holten die "Alternativen" laut der "Forschungsgruppe Wahlen" ganze 22 Prozent der Stimmen. Auch die U18-Sächsinnen und Sachsen, die noch gar nicht wählen dürfen, würden zu 16 Prozent AfD wählen. In dieser Altersgruppe wäre sie zweitstärkste Kraft hinter den Grünen. "Ich koordiniere seit 2010 das Projekt U18-Wahlen und wir sehen diesen Trend hin zur AfD unter Jugendlichen schon lange", sagt Andreas Borchert.

So erklärt das Schreiben der Experten den Rechtsruck

  • Bei Pegida "als auch bei allen anderen im Kern nationalistischen und völkisch autretenden Protesten nahmen zahlreiche Jugendliche und Kinder teil". Sie werden also schon in der Familie mit rechtem Gedankengut konfrontiert.
  • Es setzt sich dann im Freundeskreis fort. In selbstorganisierten Jugendclubs verfestigen sich rechtsextreme Meinungen in Cliquen.
  • Dort gebe es zunehmend auch "angreifendes Verhalten" gegenüber nicht-rechten Jugendlichen, die dann wegbleiben. Das wiederum bedeutet: Rechtes Gedankengut wird nicht mehr herausgefordert.
  • Das Paper beschreibt einen enormen Einfluss von Social Media, Fußball-Hooligan-Gruppen, klassischen soldatischen Organisationen der extremen Rechten, scheinbaren Jugendkulturen, bis hin zu "völkisch ökologischen Netzwerken" und offen faschistischen Milizen.

"Seit dem Ausscheiden der NPD aus dem Landtag in den 90igern sind die Strukturen einer rechten Jugendkultur schon da", heißt es weiter. Es gebe zahlreiche Ansprech- und Orientierungsmöglichkeiten für junge Menschen und eine "erlebnisorientierte Subkultur".

Die AfD und der Mainstream

Seit den fremdenfeindlichen Protesten von Pegida verfestigen sich diese Strukturen offenbar in der Mehrheitsgesellschaft. "Rechtsradikale bzw. völkisch-nationalistische Stimmungen waren schon vor der AfD oder dem Aufschwung von Pro Chemnitz da. Diese Parteien aber bewirken, dass sie offener und aggressiver ausgelebt und als 'normaler' wahrgenommen werden", erklärt Kai Dietrich von der AGJF Sachsen.

Im Schlepptau der selbsternannten "Alternativen" würden sich auch alte und neue Rechtsextreme wieder vermehrt in öffentlichen Räumen breitmachen. In Jugendzentren liegt Propagandamaterial aus, auf dem Dorffest gibt es Stände. "Das rechtsextreme Personal dahinter ist dasselbe wie früher, nur jetzt trägt es teilweise blau, hat mindestens Kontakte zur AfD", sagt Dietrich.

Es sei daher alles andere als verwunderlich, wenn solche Wahlergebnisse zu Stande kämen. "Wir haben sogar Schlimmeres erwartet", sagt Borchert.

Die "weißen Flecke" helfen den Rechtsextremen

Borchert von der Sächsischen Landjugend erklärt: Die Jugendarbeit in Sachsen wird über eine Pauschale des Bundeslands finanziert, die Landkreise und Städte legen dann noch einmal mindestens den gleichen Geldbetrag drauf.

Vor neun Jahren aber gab es massive Einschnitte bei dieser Pauschale, was insbesondere die Landkreise aus eigener Kraft nicht ausgleichen konnten. Was kompliziert klingt, hatte heftige Folgen:

  • Häuser wurden nicht weiter gefördert und mussten von den Trägern geschlossen werden.
  • Gab es 2002 noch 2158 tätige Personen in der Kinder und Jugendarbeit, sind es heute nur noch etwas mehr als die Hälfte davon.
  • Von 620 hauptamtlich geführten Einrichtungen im Jahr 2006 gibt es aktuell noch 430.

Größere Städte wie Leipzig, Dresden oder Chemnitz konnten Ausfälle in Teilen abfedern. In den ländlicheren Gegenden von Sachsen brach die Jugendarbeit daraufhin aber ein. "Wir nennen diese Orte 'Weiße Flecke' und genau dort ist viel Platz, in dem sich Rechtsradikale ausbreiten können", sagt Andreas Borchert.

Kai Dietrich nennt als Beispiele etwa den rechten Verein "Heimattreue Niederdorf", der als "sozio-kulturelle" Angebote getarnte Aktivitäten anbietet. Und es gibt Organisationen wie das Neonazistische Projekt "Haus Montag" in Pirna, das als "nationales Zentrum" auftritt.

Der Druck könnte noch wachsen

Auch Streetworker Sascha Rusch erlebt die Realität der Warnung von damals jeden Tag: "Da gibt es Hitlergrüße mitten auf dem Dorfplatz, und keiner sagt mehr was", erklärt er. Die Folgen der Landtagswahl seien dabei noch gar nicht einmal spürbar. "Gerade erleben wir vor allem die Folgen der Kommunalwahlen vom Mai", so Rusch.

Er meint damit etwa einen Streit zwischen dem Jugendzentrum "AJZ Talschock" in Chemnitz und dem dortigen Stadtrat. Letzterer warf die AJZ-Betreiber mit den gemeinsamen Stimmen von FDP, CDU, AfD und "Pro Chemnitz" aus dem Jugendhilfeausschuss. Auch andernorts, so befürchteten schon zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten gegenüber watson, könnte der Druck auf unabhängige Jugendgruppen durch eine Koalition von AfD und CDU wachsen. Je weniger es von ihnen aber gibt, desto weniger offener Raum steht gegen den Rechtsradikalismus.

"Das Problem der Demokratie liegt in Sachsen jetzt offen", sagt Streeworker Rusch.

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