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"Anne Will": Reproduktionszahl stark gesunken? Epidemiologe spricht von großem Irrtum

Michael Meyer-Hermann spricht bei "Anne Will" darüber, warum die Lockerungen nicht kommen sollten: "explosiven Verbreitung des Virus".
Michael Meyer-Hermann spricht bei "Anne Will" darüber, warum die Lockerungen nicht kommen sollten: "explosiven Verbreitung des Virus". Bild: screenshot/ard
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Reproduktionszahl stark gesunken? Epidemiologe spricht von großem Irrtum

20.04.2020, 12:18
Deana Mrkaja
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In der vergangenen Woche beschloss die Bundesregierung einige vorsichtige Lockerungen der Beschränkungsmaßnahmen wegen der Corona-Pandemie: Zwar dürfen ab Montag einige Geschäfte unter strengen Auflagen öffnen, die Kontaktbeschränkungen gelten aber weiterhin. Sowohl Finanzminister Olaf Scholz als auch Gesundheitsminister Jens Spahn sprachen von einer "neuen Normalität".

Bei "Anne Will" diskutierten die Gäste am Sonntagabend nicht nur diesen "grauenvollen Begriff", wie ihn die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) beschreibt, sondern es kam auch zu einer hitzigen und lauten Diskussion über die beschlossenen Lockerungen – vor allem in Bezug auf die Bildung.

Zu Gast bei "Anne Will" (v.l.n.r.): Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Peter Altmaier, Michael Kretschmer, Michael Meyer-Hermann und Michael Hüther.
Zu Gast bei "Anne Will" (v.l.n.r.): Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Peter Altmaier, Michael Kretschmer, Michael Meyer-Hermann und Michael Hüther.ARD/Screenshot

"Ich wünsche mir natürlich, dass alles wieder losgeht", eröffnet Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier die Diskussionsrunde. "Aber wenn wir dann nach 14 Tagen wieder einen Lockdown hätten, dann wäre das schlimm."

"Wenn die neuen Lockerungen dazu führen, dass die Infektionszahlen dennoch niedrig bleiben, dann gibt es weitere Lockerungen."
Wirtschaftsminister Peter Altmaier

Doch nicht nur Moderatorin Anne Will, sondern auch Leutheusser-Schnarrenberger, die als Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof tätig ist, versteht nicht, warum die Bundesregierung nicht auf die Ergebnisse der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Leopoldina hört und weitere Lockerungen unter sehr strengen Schutzmaßnahmen erlaubt.

Als der CDU-Politiker versucht zu erklären, dass diese Maßnahmen nicht überall eingehalten werden könnten und hinzufügt, dass er beispielsweise in Berlin in einer 30 Meter langen Schlange beim Konditor anstehen musste, kontert Anne Will: "Das machen wir alle schon seit vier Wochen!"

"Wir können das Risiko nicht unverantwortlich erhöhen. Deshalb konnten wir nur so weit gehen, wie am Mittwoch beschlossen. Es ist ein erster vorsichtiger Schritt."
Peter Altmaier
Peter Altmaier sieht die Lockerungen als einen ersten Schritt.
Peter Altmaier sieht die Lockerungen als einen ersten Schritt. ARD/Screenshot

Den Begriff der "neuen Normalität" habe er zudem nicht erfunden. Er selbst wolle eine Rückkehr zu der Normalität, wie wir sie kannten. Doch das würde noch eine Weile dauern. "Wenn wir Pech haben, bis der Impfstoff kommt." Altmaier macht jedoch noch darauf aufmerksam, dass nicht alles schlecht sei: "Deutschland ist besser mit dem Virus zurechtgekommen als die meisten anderen Ländern in Europa und auch weltweit." Dafür sei er auch den Ärzten und Krankenschwestern dankbar.

Auch Sachsen Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ist davon überzeugt, dass es eine Normalität vorerst nicht geben wird:

"Es hat sich wenig verändert. Das Virus ist noch in der Welt. Eine Normalisierung wird es erst mit einem Impfstoff geben."
Michael Kretschmer

Durch "kluges Handeln" habe es Deutschland geschafft, die Reproduktionszahl des Virus auf unter eins zu drücken. Das sei seiner Meinung nach "typisch deutsch": "Wir haben ein Problem. Dann machen wir einen Plan, erarbeiten eine Strategie und arbeiten diese dann mit Anpassungen ab. Deshalb läuft es wie am Schnürchen", so Kretschmer.

Reproduktionszahl unter 1: ein Irrtum?

Michael Meyer-Hermann sieht das ein wenig anders. Er ist Leiter der Systemimmunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Er fordert, die Kontaktbeschränkungen für weitere drei Wochen durchzuhalten. Aus einem einfachen Grund:

"Durch die angekündigten Lockerungen hat man subjektiv das Gefühl, das Problem im Griff zu haben."

Das sei aber nicht der Fall. Ebenso problematisch sei die aktuelle Reproduktionsrate von 0,7 (dabei stecken zehn Personen sieben weitere mit dem Virus an, die Verbreitung nimmt also ab, Anm. d. Red.).

"Das ist ein Artefakt der Osterwoche", erklärt er. Die Zahl komme nur zustande, weil in der Osterwoche weniger Fälle gemeldet wurden. "Dadurch ist die Reproduktionszahl heruntergegangen". Und der Wissenschaftler prophezeit: "Die Zahl wird wieder steigen." Auch deshalb, weil wir an Ostern mehr Kontakt hätten als sonst.

Eine Lockerung ist in seinen Augen eine schlechte Idee:

"Wir können keiner Lockerungen im großen Maße machen, weil wir die Reproduktionszahl dann in einen Bereich reinbringen, der zu einer explosiven Verbreitung des Virus führt."
Michael Meyer-Hermann

Anne Will: Gast bemängelt Schul-Situation

Ein weiterer Gast, der an diesem Abend aus Frankfurt zugeschaltet wird, kritisiert den Umgang mit den Schulen. "Ich verstehe nicht, warum so zögerlich gehandelt wird", sagt Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft. "Es gibt nicht nur das eine Risiko. Je länger der Lockdown dauert, desto mehr Risiken entstehen an anderer Stelle."

"Es geht auch um Bildungsgerechtigkeit. Das wird uns noch vor große gesellschaftliche Probleme stellen."
Michael Hüther
Michael Hüther wird an diesem Sonntagabend am Bildschirm zugeschaltet.
Michael Hüther wird an diesem Sonntagabend am Bildschirm zugeschaltet. ARD/Screenshot

"Wir hätten schon längst über unsere Schulen nachdenken müssen. Über Masken, Hygienemaßnahmen, Schulbusse." Er führt weiter aus, dass es beim Schutz der Gesundheit von Menschen nicht nur um das Virus ginge, sondern auch um die Eindämmung psychosozialer Schäden. Die Reproduktionszahl sei zudem nicht die relevante Zahl, sie sei "ein Irrlicht". Wichtig wäre, wie stark die Intensivbetten ausgelastet seien:

"Da sind wir unter 60 Prozent. Das ist ein gutes Zeichen. Es werden mehr Menschen entlassen, als neu aufgenommen werden."

Streit über die derzeitige Schul-Situation

Kretschmer kontert, dass zunächst die Abschlussklassen in die Schule dürften, um dann abzuwiegen, wie sich das Virus verhält. In ein paar Wochen würden dann eventuell weitere Schulklassen hinzukommen und den Betrieb aufnehmen. Und er erwähnt, was für einen "tollen Job" die Lehrer derzeit machten: "Heute kam erst die Lehrerin meines Sohnes zu uns an den Gartenzaun und hat die Aufgaben für diese Woche gebracht." Da platzt Hüther, der seit April 2020 Mitglied des Expertenrats Corona der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, der Geduldsfaden: "Ist ja schön, wenn da jemand am Gartenzaun vorbeikommt, aber Bildungserfolg hängt mit Lehrerpräsenz zusammen."

Für ihn sei es unverständlich, warum Grundschulen nicht im Fokus der Regierung stehen, schließlich stünden in vielen Ländern schon in relativ kurzer Zeit die Sommerferien an und somit ergäbe sich für viele Kinder ein massiver Bildungsverlust: "Überprüfen Sie doch Lerninhalte. Schreiben, Rechnen, Lesen, das brauchen die Kinder. Früh-Englisch braucht kein Mensch. So haben Sie weniger Unterricht und können die Klassen halbieren."

"Wir haben einen enormen Bildungsverlust. Und das seit dem 16. März!"
Michael Hüther zu Michael Kretschmer

Das Streitgespräch geht hin und her, bis kaum noch ein Wort verständlich ist. "Wir gehen an die Grenze dessen, was vertretbar ist", sagt Kretschmer. "Wir sind für die Gesundheit der Menschen verantwortlich." Hüther kontert: "Sie sind bei Grundschulen nicht mit der nötigen Intensität unterwegs. Hier geht es um den Verlust von Bildungsgerechtigkeit."

Die beiden Streithähne werden sich an diesem Abend nicht mehr einig. Anne Will beendet den Streit schließlich. Es wird erneut deutlich, wie viele unterschiedliche Meinungen es zu den Lockerungen der Schutzmaßnahmen gibt.

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