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Warum bei den US-Wahlen Millionen Stimmen wertlos sind

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Wahlwerbung für Donald Trump und seinen Kontrahenten Joe Biden im US-Bundesstaat Virginia. Bild: reuters / ALEXANDER DRAGO
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Warum bei den US-Wahlen Millionen Stimmen wertlos sind – und daran nichts geändert wird

Biden oder Trump? Wer US-Präsident wird, entscheiden nicht die Bürger der USA direkt – sondern die Wahlleute im "Electoral College". Wie es funktioniert, welche Probleme es mit sich bringt. Und warum es den Republikanern nützt – sie es aber vielleicht trotzdem bald abschaffen.
03.11.2020, 14:19
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Am Dienstag wählen die US-Amerikaner ihren Präsidenten. Das ist ein Satz, der in den USA und weltweit seit Wochen und Monaten für Schlagzeilen und Artikel, für Hoffnung und Angst sorgt. Dabei stimmt er gar nicht.

Denn zum einen haben Dutzende Millionen Bürgerinnen und Bürger der USA ihre Stimme schon in den Wochen vor dem 3. November abgegeben, per Briefwahl und in Wahllokalen. Zum anderen entscheiden die US-Amerikaner gar nicht direkt über ihren Präsidenten: Sie wählen sogenannte Wahlmänner (auf Englisch electors), die am 14. Dezember ihre Stimmen für einen Kandidaten abgeben werden. Electoral College heißt dieses Wahlmänner-Gremium.

Die US-Präsidentschaftswahlen gewinnt daher nicht, wer die meisten Stimmen bekommt – sondern, wer die meisten Wahlmänner auf seiner Seite hat. Das Electoral College ist eine Institution, die seit Jahrzehnten umstritten ist. Seit Langem ist es ein ernsthaftes Problem für die US-amerikanische Demokratie. Trotzdem wurde es immer noch nicht abgeschafft.

Wie funktioniert das Electoral College? Welche Probleme bringt es mit sich? Warum gibt es diese Institution überhaupt noch? Antworten auf die wichtigsten Fragen zu dieser US-amerikanischen Besonderheit – die bald vielleicht sogar die Republikaner abschaffen wollen.

Wie das Electoral College funktioniert

Das Electoral College ist das Organ, das den Präsidenten und den Vizepräsidenten der USA wählt. Es besteht aus 538 Wahlleuten. In jedem der 50 Bundesstaaten und dem District of Columbia (DC), in dem die US-Bundeshauptstadt Washington liegt, entscheiden die Wähler bei der Präsidentschaftswahl darüber, für wen die Wahlmänner jeweils abstimmen sollen. Die Wahlberechtigten in den kleinsten Bundesstaaten und Washington D.C. bestimmen über drei Wahlmänner, der größte Bundesstaat Kalifornien über 55 Wahlmänner.

December 19, 2016, Austin, Texas, USA: Austin Texas December 19, 2016: Elector casts a ballot as Texas electors to the U.S. Electoral College meet at the Texas Capitol to cast votes for President Dona ...
Ein Wahlmann in Texas gibt im Dezember 2016, wenige Wochen nach der Präsidentschaftswahl, seine Stimme für Donald Trump ab. Bild: www.imago-images.de / Bob Daemmrich

Konkret soll die Wahl im Jahr 2020 so ablaufen: Bis 8. Dezember bestimmen die Bundesstaaten und DC ihre Wahlleute. Am 14. Dezember kommen die Wahlleute in der Hauptstadt des jeweiligen Staates zusammen, um ihre Stimmen abzugeben. Am 6. Januar 2021 schließlich werden die Stimmen der Wahlleute ausgezählt.

Um US-Präsident zu werden, braucht ein Kandidat die absolute Mehrheit der Wahlmänner, also mindestens 270. Eine Besonderheit des Electoral College: In jedem Bundesstaat (außer Maine und Nebraska) und in DC gilt das Winner-Takes-It-All-Prinzip: Überall dort gehen sämtliche Wahlmännerstimmen an den Kandidaten, der im jeweiligen Staat die relative Mehrheit der Stimmen bekommt. Wenn also beispielsweise Präsident Donald Trump in Texas 50,01 Prozent der Stimmen bekäme und sein demokratischer Herausforderer Joe Biden 49,99, bekäme Trump alle 38 Wahlleute – und Biden Null.

Warum es das Electoral College überhaupt gibt

Das Electoral College ist fast so alt wie die USA selbst. Es gibt dieses Gremium seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, es ist quasi so alt wie die US-Verfassung. Die ursprüngliche Idee der Gründungsväter der USA: Da damals die meisten Einwohner der jungen USA die Kandidaten für die Präsidentschaft gar nicht kannten – weil es keine nationalen Medien gab und der allergrößte Teil der Bevölkerung fast nie auf Reisen ging – sollten die Wahlleute bestimmen, wer Präsident ist: also eine Elite gut gebildeter, weißer Männer, über die das Volk nicht zu bestimmen hatte. Das zumindest war die offizielle Begründung.

Politikwissenschaftler Johannes Thimm, der bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin zu den USA forscht, ergänzt aber im Gespräch mit watson:

"Die inoffizielle Begründung war schon damals, dass die Verfassungsväter Angst vor dem Volk hatten."

Ab den 1820er Jahren änderte sich das Prinzip dann: Die Wähler in den jeweiligen Staaten entschieden mit ihrer Stimme über die Wahlleute.

Seither hat sich die Demokratie in den USA nach und nach weiterentwickelt: Versklavte Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner würden zu Bürgern, Frauen bekamen das Wahlrecht. Mit dem Bundesgesetz Voting Rights Act wurde 1965 sichergestellt, dass Minderheiten ungehindert wählen können – zumindest auf dem Papier. Doch das Electoral College blieb bestehen. Bis heute wählen die US-Amerikaner ihren Präsidenten, den mächtigsten Politiker des Landes, nicht direkt.

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Bild: www.imago-images.de / tampa bay times

Welche Probleme das System mit sich bringt

Über Jahrzehnte hat das althergebrachte Electoral College die meisten US-Amerikaner nicht großartig gestört. Dafür gab es einen simplen Grund: Im 20. Jahrhundert gewann immer der Kandidat die Mehrheit im Electoral College, den auch die meisten Bürger wählten. Bei der letzten Wahl des Millenniums, im Herbst 2000, kam es anders: Damals wählten 48,4 Prozent der US-Amerikaner den Demokraten Al Gore, nur 47,9 Prozent den Republikaner George W. Bush. Doch nach turbulenten Wochen – in denen es um das hauchdünne Ergebnis im Bundesstaat Florida ging – stand schließlich Bush als Sieger fest.

Ein kurzer Dokumentarfilm der "New York Times" über das Chaos nach der Wahl im Jahr 2000. Video: YouTube/The New York Times

2016 war schon am Wahlabend klar, dass der Republikaner Donald Trump deutlich mehr Stimmen im Electoral College bekommen würde als seine demokratische Konkurrentin Hillary Clinton. Dabei hatte Clinton bei den Gesamtstimmen damals einen noch deutlicheren Vorsprung vor Trump als Gore vor Bush im Jahr 2000: 48,2 Prozent gegen 46,1.

  1. Das erste Problem des Electoral College ist also: Es kann dazu führen, dass die Mehrheit der Bürger nicht den Präsidenten bekommt, für den sie gestimmt hat. Für Politikwissenschaftler Thimm ist es das größte. Er sagt dazu: "Der größte Nachteil ist, dass der derjenige, der nicht die meisten Stimmen hat, Präsident werden kann"
  2. Ein zweites, gravierendes Problem, das mit dem Electoral College zusammenhängt: Nicht jede Stimme, die bei der US-Präsidentschaftswahl abgegeben wird, ist gleich viel wert. Das Problem gibt es grundsätzlich zwar auch bei Bundestags- und Landtagswahlen in Deutschland – weil auch in Deutschland Bürger, die für Parteien stimmen, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, nicht repräsentiert werden.

    Aber in den USA ist diese Verzerrung besonders krass: Die Wähler in manchen Staaten sind stärker vertreten als die in anderen. In Kalifornien repräsentiert ein Wahlmann rund 679.000 Bürger – im kleineren Wyoming dagegen rund 189.000. Ein Bürger aus Wyoming ist im Electoral College also dreieinhalbmal so stark vertreten wie einer aus Kalifornien.
  3. Durch das Winner-Takes-It-All-Prinzip gilt in 48 von 50 Staaten und in DC: Wer in seinem Staat für den unterlegenen Kandidaten stimmt, dessen Stimme ist futsch. Sie zählt nicht mehr für die Entscheidung, wer Präsident wird. Das führt zu absurden Verzerrungen: 2016 stimmten knapp 4,5 Millionen Menschen in Kalifornien für Donald Trump – nur in zwei anderen Staaten bekam er mehr Stimmen. Doch diese Stimmen hatten keinen Wert, weil Hillary Clinton die Mehrheit in Kalifornien holte und alle 54 Wahlmänner aus dem Staat für sie stimmten.
  4. Manche Staaten spielen in den Präsidentschaftswahlen fast gar keine Rolle, weil sowieso klar ist, an wen ihre Wahlleute-Stimmen gehen: Das bedeutet weniger Wahlkampfveranstaltungen, weniger Aufmerksamkeit durch die Kandidaten für die Themen, die dort wichtig sind. Vor der Wahl im Jahr 2016 hielt laut dem journalistischen Nachrichtenportal Vox.com Hillary Clinton in Kalifornien vor der Wahl keine einzige Wahlkampfveranstaltung ab – weil sie sich sicher war, dass sie den Staat gewinnen würde. Trump kam nur ein einziges Mal nach Texas, damals noch eine republikanische Hochburg. In Florida dagegen – einem sogenannten "Swing State", in dem mal die Demokraten, mal die Republikaner die Mehrheit für ihren Kandidaten holen – hielt Trump 36 Veranstaltungen ab, Clinton 35.

    Diese Verzerrung kann großen Einfluss auf das Leben der Menschen vor Ort haben: Eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2017 hat belegt, dass "Swing States" wie Florida, Wisconsin und Michigan nach der Wahl deutlich mehr Geld von der US-Bundesregierung bekamen als Wähler in Kalifornien oder Utah (die als sicher für die eine oder andere Partei gelten).
  5. Das Electoral College diskriminert – schon seit dem 18. Jahrhundert – nicht-weiße US-Amerikaner: In der Anfangszeit der USA sollte es dazu dienen, dass die Südstaaten, in denen die Sklaverei legal war, politisch nicht ins Hintertreffen geraten. Bis heute sind die Staaten, deren Bürger im Electoral Collage überrepräsentiert sind, vor allem ländlich geprägt. Und es sind Staaten, in denen der Anteil weißer Menschen überdurchschnittlich groß ist im Vergleich zur US-Gesamtbevölkerung.
Democratic U.S. presidential nominee and former Vice President Joe Biden is seen on a screen as U.S. President Donald Trump watches a campaign add during his campaign rally at Oakland County Internati ...
Biden oder Trump? Wer US-Präsident wird, entscheidet ein über 200 Jahre altes Gremium. Bild: reuters / CARLOS BARRIA

Das sind alles erhebliche Probleme für die US-Demokratie. Hat das System auch objektive Vorteile? Politikwissenschaftler Thimm sagt:

"Nein, unter dem Strich nicht."

Warum das Electoral College nicht abgeschafft wurde

Seit Jahrzehnten, das zeigen Umfragen, ist eine Mehrheit der US-Amerikaner für die Abschaffung des Electoral College – und für eine echte Direktwahl des Präsidenten. Doch das Electoral College ist in der US-Verfassung verankert, im 12. Verfassungszusatz. Um es abzuschaffen, müsste die Verfassung der USA also verändert werden. Und einer Verfassungsänderung müssen in den USA zunächst zwei Drittel der Abgeordneten in beiden Kammern des Kongresses zustimmen, also in Repräsentantenhaus und Senat – und dann die Parlamente von drei Vierteln der Bundesstaaten, also 38 Landesparlamente.

Es gab schon erfolgversprechende Versuche, das Electoral College abzuschaffen. Der letzte scheiterte im Jahr 1970 im US-Senat. Republikanische und demokratische Senatoren aus den Südstaaten blockierten den Vorschlag mit einem sogenannten Filibuster, also ermüdend lange Reden, die eine Abstimmung der Abgeordneten verhinderten. Das Argument des republikanischen Senators James Allen aus Alabama: Das Electoral College sei "eine der wenigen verbliebenen politischen Absicherungen für die Südstaaten. Behalten wir es."

Es gäbe eine andere Möglichkeit, das Electoral College zwar nicht abzuschaffen – aber es trotzdem zu überwinden: ein Abkommen zwischen mehreren Bundesstaaten, in dem sie sich verpflichten, nur Wahlmänner für den Kandidaten zu entsenden, den die Mehrheit der US-Bürger gewählt haben. Wie die Bundesstaaten ihre Wahlmänner auswählen, haben sie nämlich selbst in der Hand. Dieses Abkommen existiert schon seit Mitte der 2000er Jahre, es heißt "National Popular Vote Interstate Compact". Damit es die Probleme des Electoral College aushebeln kann, müssten genug Staaten beitreten, damit 270 Wahlleute-Stimmen zusammen kommen. Bisher gehören dem Compact aber nur 15 Staaten an, die 196 Wahlleute-Stimmen repräsentieren – und allesamt demokratisch regiert. Damit die Initiative erfolgreich ist, müssten auch republikanische Staaten beitreten.

Doch das Electoral College hilft derzeit vor allem einer Partei, das haben die Wahlen von 2000 und 2016 gezeigt: den Republikanern.

Warum bald auch Republikaner gegen das Electoral College sein könnten

2000 und 2016 hat das Electoral College republikanischen Kandidaten zum Sieg verholfen – obwohl sie die Mehrheit der Stimmen der US-Amerikaner gegen sich hatten.

Aber das Pendel könnte bald umschlagen.

Denn die Zusammensetzung der Bevölkerung in den US-Staaten ändert sich: Sie wird diverser, Weiße machen an immer weniger Orten die Mehrheit aus, mehr Menschen ziehen in die Städte, ländliche Gebiete schrumpfen. Diese Entwicklung betrifft auch Texas – einen Staat, der 38 von 538 Wahlmännern stellt, nur Kalifornien stellt mit 55 mehr davon.

Texas gilt als besonders konservativ, die Wahlmänner sind seit Längerem eine sichere Bank für die Republikaner. Doch das ändert sich: Bei den Kongresswahlen 2018 gewann der republikanische Senator Ted Cruz seinen Sitz gegen seinen demokratischen Konkurrenten Beto o'Rourke nur mit einem knappen Vorsprung. Und vor der Präsidentschaftswahl 2020 haben Umfragen eine realistische Chance gezeigt, dass der Demokrat Biden sich diesmal die texanischen Wahlmänner sichern könnte. Und weil Texas sich weiter verändert – mehr Menschen ziehen in die Metropolen Austin und Houston, der Anteil nicht-weißer Wähler wächst – könnte es 2024 und 2028 noch schlechter für die Republikaner aussehen.

Beto O Rourke talks to a supporter following a speech at AT&T Conference Center in Austin, Texas on Thursday, October 4, 2018. Texas Democrat Senate candidate Beto O Rourke is trying to get voters ...
Knapp an der Sensation vorbei: Der demokratische Politiker Beto o'Rourke verpasste bei der Kongresswahl 2018 nur knapp einen Senatssitz im lange erzkonservativen Texas. Bild: imago stock&people / UPI Photo

Das System, das den Republikanern 2000 und 2016 zum Sieg verholfen hat, könnte sich also bald gegen sie wenden. Und damit den Druck für eine Abschaffung oder Überwindung des Electoral College erhöhen.

Politikwissenschaftler Thimm glaubt zwar, dass eine Verfassungsänderung, die das Electoral College abschafft, unrealistisch ist. Aber die zweite Variante, der Zusammenschluss von Staaten, die ihre Wahlmänner am "Popular Vote" ausrichten, also daran, wen die Mehrheit aller US-Amerikaner landesweit zum Präsidenten wählen, könnte aus Thimms Sicht weiter wachsen – auch um republikanisch regierte Staaten. "Der Problemdruck war lange nicht so groß", sagt Thimm und ergänzt: "2016 war schon ein Weckruf."

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