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Britischer Politikwissenschaftler zu Johnson: "Ein Mann ohne persönliche Moral"

LONDON, ENGLAND - JULY 24: Prime minister Boris Johnson wears a face mask as he visits Tollgate Medical Centre in Beckton on July 24, 2020 in London, England. (Photo by Jeremy Selwyn - WPA Pool/Getty  ...
Zum Haare raufen: Boris Johnsons Krisenmanagement der Corona-Pandemie wird immer offensichtlicher zum Debakel.Bild: Getty Images Europe / WPA Pool
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Britischer Politikwissenschaftler: "Boris Johnson ist ein Mann, der überhaupt keine persönliche Moral hat"

22.12.2020, 12:4722.12.2020, 20:28
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Er hatte es eigentlich ausgeschlossen, doch jetzt wird Boris Johnson doch noch zum Grinch: Er vermiest den Briten das Weihnachtsfest. Der britische Premier hatte zunächst darauf bestanden, dass die Weihnachtsfeiertage auf der Insel so normal wie möglich verlaufen. Aber gestiegene Infektionszahlen und eine Mutation des Virus im Süden Englands lassen ihm keine andere Wahl: In Teilen Großbritanniens, inklusive der Hauptstadt, wird der Lockdown verhängt.

Als wäre das nicht genug, droht Ende des Jahres ein Ultimatum auszulaufen. Sollte bis dahin kein Deal zwischen Großbritannien und der EU zustande gekommen sein, kommt der harte Brexit: ein Ausstieg aus der EU ohne geregelte Verhältnisse. Was dramatisch klingt, würde aktuell nur den Status Quo des Corona-Dezembers zementieren: Schon jetzt ist Großbritannien isoliert. Aufgrund der Entdeckung einer neuen, mutierten Variante des Sars-Cov-2-Virus hat die EU über Nacht die Schotten nach Großbritannien dicht gemacht. Es gibt keine Möglichkeit mehr, von dort in die EU ein- oder auszureisen.

Es ist eine verzwickte Lage – in die sich Boris Johnson laut Politikwissenschaftler Anthony Glees zum Teil selbst hineinmanövriert hat.

Der britische Politikwissenschaftler von der University of Buckingham stellt dem britischen Premier ein vernichtendes Zeugnis für dessen Krisenmanagement aus: Weder Brexit noch Corona-Krise habe er gemeistert. Warum Glees der Meinung ist, dass Johnson ein "Glücksritter" sei und weshalb er sich dennoch in Großbritannien gut geschützt vor dem Coronavirus fühlt, erklärt er im Interview mit watson.

"Johnson wusste davon und er tat nichts."

Watson: Mr. Glees, Sie sind selbst Brite, wie gut fühlen Sie sich von Ihrer Regierung während der Corona-Pandemie geschützt?

Anthony Glees:
(lacht) Das ist eine komplizierte Frage. Die Regierung folgt der Wissenschaft. Wenn Sie mich fragen würden, ob ich mich von der britischen oder globalen Wissenschaft geschützt fühle, würde ich schlicht mit "ja" antworten. Die Wissenschaft hat enorme Errungenschaften erzielt und da nun geimpft werden kann, fühlen meine Familie und ich uns in guten Händen.

Aber?

Dafür ist nicht die Regierung von Boris Johnson verantwortlich.

Dann frage ich nochmal anders: Wie würden Sie Johnsons Krisen-Management während der Corona-Krise bewerten?

Boris Johnson war nicht Herr der Lage und das ist er noch immer nicht. Die Regierungspolitik ist wirr, undurchsichtig und gefährlich. Wir lesen, dass es bei uns ungefähr 60.000 Covid-Tote gibt. Das sind 40.000 Tote mehr, als man von einer gefährlichen Grippewelle erwarten würde.

Und nun ist das Virus in Großbritannien auch noch mutiert...

Das ist aber nicht neu. Seit September leiden Menschen in Essex an dieser Variante von Covid. Johnson wusste davon und er tat nichts. Man hätte einen kurzen, harten Lockdown durchführen müssen, aber das wollte er nicht.

Boris Johnson galt generell als Gegner eines Lockdowns, auch im Frühjahr wollte er zunächst die Bevölkerung durch Herdenimmunität schützen. War das Ihrer Ansicht nach eine gute Idee?

Das war eine sehr blöde Idee, die sehr unwissenschaftlich ist. Boris Johnson ist ein Mann, der eigentlich nichts von der Wissenschaft versteht.

Wie meinen Sie das?

Er war sein ganzes Leben lang Journalist. Er hat kommentiert und geschrieben und ist zweimal wegen offensichtlicher Lügen, die er veröffentlicht hat, gefeuert worden. Er hat kein wissenschaftliches Fundament.

"Das sind Sitten, die man eigentlich nur in der Tierwelt findet."

Wie würden Sie den Premierminister sonst charakterisieren?

Das ist ein Mann, der überhaupt keine persönliche Moral hat. Das sieht man auch an seinem Privatleben. Seine Frau war schwer an Krebs erkrankt und er hat sie mit einer Freundin betrogen. Das sind Sitten, die man eigentlich nur in der Tierwelt findet.

Boris Johnson ist im Frühjahr selbst an Covid-19 erkrankt. Denken Sie, dass ihn das vielleicht demütiger gemacht hat?

Nein. Zunächst dachte man, er wäre seriöser geworden. Ihm ging es ja wirklich schlecht und er ist beinahe daran gestorben. Das kann einen Menschen schon verändern. Aber er ist immer noch derselbe Glücksritter.

Auch in der aktuellen Situation scheint ihm ein innerer Kompass zu fehlen...

Johnson hat als echter Liberaler zunächst erklärt, es gebe fünf Tage lang Partys an den Weihnachtsfeiertagen. Alle haben sich darauf eingestellt und plötzlich ändert er die Politik um 180 Grad und stattdessen kommt eine Maßnahmen-Verschärfung und in manchen Teilen sogar ein Lockdown zum Fest. Das sind allerlei wirre Gedanken von einem Mann, der seiner Aufgabe nicht gewachsen ist.

Wie bewerten die Briten seine Entscheidung?

Selbst die Boulevardzeitung "Daily Mail", die eigentlich Johnson-Anhänger vertritt, hat ihn sehr, sehr scharf kritisiert und erklärt, dass man es ihm nie verzeihen wird, dass er nun doch einen Lockdown verhängt hat. Wenn die "Daily Mail" so etwas sagt, dann können Sie darauf Gift nehmen, dass das auch viele Briten so denken.

Wird er sich Ihrer Meinung nach noch lange als Premier halten können?

Das wird sich zeigen, aber er hat zwei Probleme: Covid-19 und den Brexit. Und das eine hat er sich selbst eingebrockt mit seiner harten Linie: Das ist der Brexit.

"Wir sind wie eine südamerikanische Bananenrepublik – nur ohne Bananen."

Der Brexit ist nach wie vor nicht geordnet abgelaufen, zum Ende des Jahres droht nun ein harter Ausstieg aus der EU, weil die Übergangszeit nicht verlängert wurde. Ist das aus Ihrer Sicht klug?

Ein achtjähriges Kind würde sich für eine Verlängerung der Übergangszeit aussprechen. Gerade jetzt, wo man so sehr mit der Corona-Krise beschäftigt ist, wäre es ein guter Grund, das Ultimatum zu verlängern. Aber Johnson kann das nicht tun.

Weshalb?

Weil der Teil seiner Partei, der einen No-Deal-Brexit möchte, ihn sonst stürzen würde. Das weiß er.

Das heißt, Johnson will einen harten Brexit?

Für Boris Johnson ist es weniger gefährlich, mit einem No-Deal anzukommen als mit einem schlechten Deal, mit dem die Menschen nicht zufrieden wären. Für ein unbefriedigendes Abkommen könnte er von seiner eigenen konservativen Partei kritisiert werden. Für einen No-Deal nicht. Er inszeniert sich da ganz gerne als Winston Churchill im Mai 1940, Großbritannien gegen den Kontinent.

Sie scheinen nicht gerade begeistert von diesem Vorgehen zu sein...

Überhaupt nicht. Es ist eine Katastrophe. Nun droht uns sogar, dass wir keinen Impfstoff bekommen. Der wird bekanntermaßen in Belgien hergestellt und könnte wegen des drohenden harten Brexits nicht über den Kanal kommen. Wir sind wie eine südamerikanische Bananenrepublik – nur ohne Bananen.

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