"Testen und Bummeln": So abwertend nannte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Interview mit Anne Will Berlins aktuelle Corona-Strategie. Gemeint ist damit von Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Samstag beschlossene Maßnahme, dass in der Hauptstadt ab Mittwoch ein tagesaktueller, negativer Corona-Test vorgelegt werden muss, um einkaufen oder zum Frisör gehen zu dürfen. Supermärkte und Drogerien dürfen weiterhin ohne Test aufgesucht werden.
Die Entscheidung Müllers, trotz steigender Corona-Infektionszahlen an den Lockerungen festzuhalten, mag vielen riskant erscheinen: So liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Berlin momentan bei 143,3, ist also höher als der bundesweite Durchschnitt von 134. Auch Merkel bezweifelt, ob das Vorgehen in der Hauptstadt "die richtige Antwort auf das ist, was sich zurzeit abspielt".
Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon-Hochschule in Berlin steht Müllers Entscheidung ebenfalls skeptisch gegenüber. Er glaubt, "dass wir uns Experimente mit Testungen plus Öffnungen augenblicklich nicht leisten können", wie er zu watson sagt. "In der Summe trägt diese Situation zur Virusverbreitung bei."
Damit schließt sich Ulrichs mahnenden Stimmen wie der von Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) an, der angesichts der schnell steigenden Inzidenzzahlen einen "letzten harten Lockdown" für Deutschland forderte. Durch Testen allein sei die Lage nicht mehr in den Griff zu kriegen.
"Grundsätzlich gilt, je weniger Kontakte, desto besser", sagt Ulrichs. "Bei Terminvergabe ist dies weitgehend sichergestellt." Negative Tests könnten laut dem Epidemiologen zusätzlich eingesetzt werden, um den Besuch beim Frisör beispielsweise noch sicherer zu machen.
Sie können allerdings weder eine Terminvergabe ersetzen, noch ist momentan überhaupt der richtige Zeitpunkt für solche Maßnahmen: "Noch grundsätzlicher gilt, dass wir uns Experimente mit Testungen plus Öffnungen augenblicklich nicht leisten können", warnt Ulrichs. Er fordert stattdessen:
Nun noch länger zu überlegen und weitere Lockerungen zu probieren, wie sie auch das Saarland beispielsweise nach Ostern plant, hält Ulrichs für gefährlich – vor allem, wenn die Lösung praktisch auf der Hand liegt:
Eine bundesweite Einigung zu Lockerungen und Lockdown ist momentan noch nicht in Sicht. Merkel übte Sonntagabend im Interview mit Will allerdings Druck auf die Länder aus, ihre Maßnahmen zu verschärfen. "Wir müssen mit einer großen Ernsthaftigkeit jetzt die geeigneten Maßnahmen einsetzen. Und einige Bundesländer tun das, andere tun es noch nicht", so Merkel. Wenn das nicht "in sehr absehbarer Zeit" geschehe, müsse sie sich überlegen, wie sich das vielleicht auch bundeseinheitlich regeln lasse.
Eine Möglichkeit sei, "das Infektionsschutzgesetz noch mal anzupacken und ganz spezifisch zu sagen, was muss in welchem Fall geschehen", so die Kanzlerin. Sie werde nicht zuschauen, bis es 100.000 Neuinfektionen am Tag gebe, wie es der Leiter des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler vor Kurzem voraussagte.
Welche Maßnahmen demnächst konkret umgesetzt werden könnten und ob der Lockdown noch einmal verschärft wird, ist allerdings noch nicht eindeutig. Merkel denke noch nach und habe noch nicht abschließend entschieden. Der Flächenbrand tobt derweil weiter, während die einen vereinzelt Wasserkübel in die Flammen kippen, die anderen unbeschwert zündeln und so das Infektionsgeschehen weiter vorantreiben.
(mit Material von dpa)