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Psychische Krankheit: Wie die Geschichte meines bipolaren Vaters anderen hilft

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Bild: Getty Images / watson Montage
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Wie es anderen Menschen hilft, wenn ich über meinen psychisch kranken Vater spreche

jolina gruber*
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Jolina Gruber (Name von der Redaktion geändert), 33, betreut ihren Vater, der eine bipolare Störung hat. Grubers Alltag ist manchmal schwierig – vor allem, wenn ihr Vater wieder eine manische Phase hat, in der er besonders reizbar ist. Allerdings hat die junge Frau ein Mittel gefunden, wie sie sich selbst und anderen helfen kann.
20.07.2019, 19:17

Ich springe aus der Straßenbahn, renne über die Straße, schlüpfe durch die Seitentür in das Gebäude rein, in dem ich arbeite. Das Meeting hat bereits angefangen, ich bin viel zu spät dran.

"Entschuldigt bitte", sage ich leicht schnaufend zu meinen Kollegen. "Ich konnte leider nicht früher kommen – mein Vater hat wieder mal verrückt gespielt."

In der Arbeit wissen alle Bescheid: Mein Vater ist verrückt.

Meine Kollegen, mit denen ich sehr eng zusammen arbeite und mit denen ich mich auch persönlich gut verstehe, wissen über meine familiäre Situation Bescheid: Mein Vater, der in der Wohnung unter mir wohnt und um den ich mich kümmere, hat eine bipolare Störung. Aktuell ist er wieder in einer seiner manischen Phasen. Das heißt, er ist sehr aktiv, reizbar, bildet sich ein, berühmte Persönlichkeiten zu kennen und will das Geld am liebsten mit beiden Händen aus den Fenstern werfen.

Heute früh war er wieder wütend auf mich, weil ich ihm nur ein kleines Taschengeld gegeben habe, damit er sich tagsüber, während ich arbeiten bin, etwas zu essen kaufen kann. Das hat dann ein wenig gedauert, bis ich ihn wieder beruhigen konnte.

Mein Alltag ist durch die psychische Krankheit meines Vaters erschwert

Mein Alltag mit einem psychisch kranken Vater, den ich versorgen muss, ist manchmal schwierig - besonders, seitdem meine Mutter vor einigen Jahren verstorben ist. Zwar nimmt mein Vater Medikamente und hat mittlerweile einen Betreuer und eine Haushaltshilfe – aber natürlich bin ich seine nächste Vertrauensperson.

Die bipolare Störung meines Vaters äußert sich in Depressionen im Wechsel mit manischen Phasen, die alle paar Jahre ausbrechen, wenn er eine größere Summe Geld zur Verfügung hat. Das war zum Beispiel einmal, als wir eine größere Summe Geld von meiner Oma für einen Umzug bekommen haben. Oder einmal, als wir das Haus meiner Oma verkauft haben. Dann wird er überdreht, schläft kaum noch, bildet sich ein, Diplomat zu sein und wird teilweise auch aggressiv. Glaubt mir, es ist kein Spaß, wenn euer Vater zwischendurch Steine an euer Fenster wirft oder droht, das Haus anzuzünden.

Es hilft mir, dem Alltag mit meinem psychisch kranken Vater zu begegnen, wenn ich darüber lachen kann.

Dem Stress begegne ich meist, indem ich darüber spreche. In meinem Umfeld wissen eigentlich die meisten darüber Bescheid, was bei uns zu Hause abgeht. Die Geschichten sind teilweise so absurd, dass ich nicht anders kann, als sie mit Humor zu nehmen. Da war zum Beispiel die Story, als mein Vater erzählte, er treffe sich mit Arnold Schwarzenegger. Oder die Begebenheit in der psychiatrischen Klinik, als mein Vater angefangen hat, kleine Geldgeschäfte mit den anderen Patienten zu schließen und die Pfleger schier in den Wahnsinn getrieben hat.

Dabei geht es mir nicht darum, meinen Vater bloßzustellen. Solche Geschichten sind tatsächlich Teil meines Alltags. Und es hilft mir, diesen Alltag zu bewältigen, wenn ich darüber lachen kann. Mehr noch: Ich habe den Eindruck, dass ich die Krankheit meines Vaters auf diesem Wege anderen Menschen näher bringen kann und sie sich trauen, offener mit mir darüber zu sprechen.

Die Geschichten über meinen bipolaren Vater sind verrückt

Wenn ich wieder eine dieser Anekdoten erzähle, müssen meine Freunde, Bekannten und Kollegen zunächst mitlachen. Aber sie verstehen auch, dass die Situation ernst ist – und fragen danach, wie es mir geht oder was es mit der Krankheit meines Vaters genau auf sich hat. Der Humor funktioniert wie ein Eisbrecher. Erst durch ihn trauen sich die Menschen, mir offen und entspannt ihre Fragen zu stellen - und so wird eine Konversation über psychische Krankheiten und den Alltag mit Betroffenen erst möglich.

Was mir allerdings noch viel wichtiger ist: Ich merke, wenn ich mich nicht schäme, über das Leben mit meinem bipolaren Vater zu sprechen, trauen sich auch andere, ihre Geschichten zu erzählen.

Weinend erzählte meine Kollegin mir: Ihre Mutter ist auch psychisch krank

An dem Tag, an dem ich zu spät zur Arbeit kam und das mit meinem kranken Vater entschuldigte, kam kurz darauf eine Kollegin auf mich zu. Sie ist sehr viel jünger als ich, gerade mal 20, und noch in der Ausbildung. Sie fragte mich, ob wir in einem ruhigen Augenblick mal sprechen könnten – denn ein Familienmitglied hat dieselbe Diagnose wie mein Vater.

Wir verabredeten uns auf einen Kaffee in der darauffolgenden Woche. Und da sprudelte es dann plötzlich aus ihr heraus: Unter Tränen erzählte meine Kollegin mir, dass ihre Mutter ebenfalls von einer bipolaren Störung betroffen sei. Dass die Mutter bereits in der Klinik deswegen gewesen ist. Dass sie sich bisher nicht getraut hatte, über ihre Geschichte zu sprechen – bis sie erfuhr, dass es bei uns zu Hause ähnlich zuging.

Ich merkte, meine Kollegin braucht einfach nur jemanden, der ihr zuhört und sie versteht.

Ich sagte ihr, dass es toll sei, wie sie ihre Mutter unterstütze. Dass sie ganz stark ist und nicht vergessen darf, an sich selbst zu denken – denn wenn sie nicht hin und wieder Abstand zur Krankheit ihrer Mutter gewinnt, belastet sie sich selbst nur zu sehr und kann ihrer Familie dann auch nicht mehr helfen. Vor allem aber hörte ich ihr zu – denn ich merkte, sie brauchte einfach jemanden, der sie versteht.

Und auch mir tat die Situation gut: Zwar haben alle Menschen in meinem Umkreis sehr viel Verständnis für mich und meinen Vater. Es ist aber noch etwas anderes, mit anderen Familienmitgliedern von psychisch kranken Menschen zu sprechen. Ich weiß, dass sie sich die Situation noch besser vorstellen können und fühle mich selbst gleich weniger allein.

Über mentale Gesundheit zu sprechen ist nicht einfach

Ich weiß, dass es nicht einfach ist, über mentale Gesundheit zu sprechen. Immer noch sind psychische Krankheiten mit einem Tabu behaftet, unter dem Betroffene und auch ihre Familienmitglieder leiden. Dabei sind psychische Erkrankungen nichts, wofür man sich schämen muss. Es geht nicht um Schwäche oder Unvermögen, sondern Gesundheit. Und Gesundheit, egal ob körperliche oder geistige, sollte kein Tabuthema sein müssen.

Ich weiß, ich habe viel Glück, ein liebevolles Umfeld zu haben und offen darüber sprechen zu können, was bei uns zu Hause abgeht. Und gleichzeitig finde ich es auch wichtig, die Botschaft hinaustragen zu können: Wir können doch über alles reden, wenn wir das Bedürfnis dazu haben und es uns hilft. Und dass Reden meistens hilft - diese Erfahrung haben wir wohl alle schon gemacht, in verschiedenen Bereichen.

Ich freue mich jedenfalls, meiner Kollegin geholfen zu haben und bin dankbar, dass sie auch mir Verständnis entgegengebracht hat. Ich hoffe, das gibt ihr Kraft, vielleicht auch mit anderen Menschen über die psychische Erkrankungen ihres geliebten Familienmitglieds zu sprechen – und ihnen so mit ihren eigenen Geschichten zu helfen.

Protokoll: Agatha Kremplewski

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