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Interview

"Völliger Unsinn": Rechtsmediziner über die Fehler seiner "Tatort"-Kollegen

Dr. Claas Buschmann (40), Oberarzt im Institut für Rechtsmedizin an der Charité, Abteilung Forensische Pathologie
Claas Buschmann an seinem ehemaligen Berliner Arbeitsplatz an der Charité.Bild: Parwez / parwez.de
Interview

"Völliger Unsinn": Rechtsmediziner über die Fehler seiner "Tatort"-Kollegen

11.04.2021, 13:3812.04.2021, 07:15
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Nach welchem Schema verwest ein Körper eigentlich? Und müssen wir uns vor Serienkillern fürchten? Wenn das jemand weiß, dann Claas Buschmann. Denn er hat den Traumjob eines jeden True-Crime-Fans ergattert: Er ist Rechtsmediziner.

Der 40-Jährige war jahrelang Rettungssanitäter, bevor er 2007 begann, an der Berliner Charité zu arbeiten. In den vergangenen dreizehn Jahren führte er dort in der Rechtsmedizin etwa 2000 Obduktionen durch – unter anderem an einer Frau, die bei lebendigem Leib verbrannte und einer Studentin, die von ihrem WG-Mitbewohner erstochen wurde. Doch trotz der menschlichen Abgründe, die sich ihm unter dem Skalpell eröffnen, sagt Buschmann, die Entscheidung für seinen Beruf habe er "keinen Tag bereut".

Inzwischen ist er leitender Oberarzt an der Uniklinik Schleswig-Holstein und seit Neuestem auch Autor. In seinem Buch "Wenn die Toten sprechen" gibt er Einblicke in einige seiner spektakulärsten Fälle. Im Interview mit watson spricht er über belastende Gerichtsprozesse, junge Drogenopfer und warum seine "Tatort"-Kollegen im Fernsehen illegal vorgehen.

"Wenn der Rechtsmediziner sich im Fernsehen über eine Leiche beugt, einen Blick draufwirft und dann zu den Kollegen sagt: 'Todeszeitpunkt 13.26 Uhr', ist das völliger Unsinn."

watson: Sie sind Rechtsmediziner. Wenn Sie auf einer Party in der Küche stehen und das einem Fremden erzählen – was kommt dann als erste Frage?

Claas Buschmann: Wie hältst du den Geruch aus? Und gleich danach: Was war dein schlimmster Fall? Eigentlich gibt es da immer zwei Lager: Die einen finden meinen Beruf ganz furchtbar und sagen, wie schrecklich das wohl sein muss – und die anderen wollen dann erst recht mehr hören.

Na dann: Wie halten Sie denn den Geruch aus?

Das ist gar nicht so wild. Wir arbeiten ja in einem klimatisierten Raum, wie in einem normalen OP-Saal auch. Unangenehm riechen tut es eigentlich eher in den Wohnungen, in denen Leichen aufgefunden werden. Erstens liegen die manchmal schon eine Weile, zweitens haben wir es nicht nur mit den oberen Zehntausend zu tun, sondern auch mit Menschen in Armutsverhältnissen, manchmal auch Messies. Da riecht es am Fundort dann allein schon wegen der Wohn- und Lebensbedingungen unangenehm.

Und was war Ihr schlimmster Fall?

Ich habe eine Handvoll Geschichten erlebt, die ich mir mit herumtrage, aber die kommen alle noch aus meiner Zeit beim Rettungsdienst. Ich habe lange mit Menschen gearbeitet, die sterben und jetzt mit solchen, die schon gestorben sind – ersteres ist sehr viel belastender.

Warum?

Zum einen, weil man unter sehr hohem zeitlichen Druck lebenswichtige Entscheidungen treffen muss und zum anderen, weil man die Ereignisse noch vor Ort in all ihrer Dynamik miterlebt. Wenn ich als Rechtsmediziner Tote untersuche, haben die keine Schmerzen mehr, ihr Leiden ist schon vorbei. Außerdem sehen wir auch meist keine Angehörigen. Die Ehefrau, die das Tuch wegnimmt und schreiend vor dem Leichnam zusammenbricht, ist eine Erfindung des Fernsehens.

Belastend sind also eher die Geschichten der Menschen, die noch leben?

Ja, der traurige Teil ist nicht die Arbeit mit den Toten, sondern mit den Lebendigen. In der Rechtsmedizin gehört es nicht nur dazu, Leichen zu untersuchen, sondern auch Geschädigte und Tatverdächtige. Wenn ein Tötungsdelikt vorliegt, untersuchen wir Verdächtige oft unmittelbar nach der Tat, zum Beispiel auf Kampfspuren. Aber auch die Opfer sitzen vor uns, damit wir ihre Verletzungen dokumentieren können. Sich von deren Leid zu distanzieren, ist schon schwieriger.

"Ich habe lange mit Menschen gearbeitet, die sterben und jetzt mit solchen, die schon gestorben sind – ersteres ist sehr viel belastender."

Haben Sie ein Beispiel?

Ich erinnere mich noch gut an eine brutale Vergewaltigung, bei der ich das Opfer untersucht hatte. Vor Gericht musste ich dann mein Gutachten dazu vortragen, es gab auch eine Überwachungskamera, die den ganzen Akt, den 30-minütigen Kampf und Missbrauch dieser Frau, aufgenommen hatte. Zeuge solcher Verfahren zu sein, schmerzt auch Profis.

Ihre Gutachten sind in solchen Prozessen von großer Relevanz. Setzt einen das unter Druck?

Die Aufklärung eines Falls ist glücklicherweise Teamarbeit. Es ist wie ein Puzzle, bei dem wir als Rechtsmediziner einen Teil beitragen, Spurensicherung, Kriminaltechniker und andere Polizeibeamte aber genauso. Für den Richter ist wichtig, dass ich meine Berichte in klarem Deutsch verfasse. Ärzte sprechen normalerweise Latein und Griechisch miteinander, wenn sie ihre Diagnosen und Briefe verfassen. Ich kann das nicht machen, weil meine Gutachten für medizinische Laien sofort verständlich sein müssen. Und so wird die Tracheotomie zum Luftröhrenschnitt.

Was sind denn typische Todesursachen, die Ihnen auf der Arbeit unterkommen?

Tötungen sind eher selten und dem typisch trickreichen Serienkiller aus Romanen bin ich auch noch nie begegnet. In meiner Dienstzeit in Berlin gab es im Jahr etwa 50 bis 80 Tötungsdelikte, aber die meisten ungeklärten Todesfälle, zu denen wir gerufen wurden, waren nicht fremdverschuldet. Dazu muss man vielleicht wissen: Wird ein Mensch tot aufgefunden, muss ein Arzt einen Totenschein ausstellen, auf dem er ein Kreuz macht, ob es sich um einen natürlichen, einen unnatürlichen oder einen unklaren Tod handelt. Nur wenn die Todesursache unklar oder unnatürlich ist, wird die Polizei dazu gerufen, um das weiter zu untersuchen. Und eventuell holt man uns dann auch dazu.

"Tötungen sind eher selten, und dem typisch trickreichen Serienkiller aus Romanen bin ich auch noch nie begegnet."

Sind darunter auch jüngere Opfer?

Wenn ich jüngere Tote vor mir habe, was eher selten ist, sind die Ursachen oft Suizide oder Drogenmissbrauch. Ganz allgemein kann man sagen: In der Rechtsmedizin begegnet uns vor allem das Thema Alkohol immer wieder. Sehr oft sind die Verstorbenen Alkoholiker gewesen und kamen direkt oder indirekt an den Folgen ihres Konsums um, manchmal kommt es auch zu Straftaten unter Alkoholeinfluss. Würde weniger Alkohol getrunken, hätte ich deutlich weniger zu tun.

Ist es als Rechtsmediziner frustrierend, wenn man nicht herausfindet, was es am Ende war?

Nein. Oft geht es gar nicht so sehr darum, die Todesursache zu klären, sondern ein Fremdverschulden auszuschließen. Es gibt sehr viele funktionelle Todesursachen, wie Herzrhythmusstörungen, die können wir auch bei einer Obduktion nicht sehen, schon gar nicht, wenn die Körper schon verwest sind, was in Großstädten bei etwa jeder zweiten gefundenen Leiche der Fall ist. Aber selbst dann kann unsere Arbeit oft nützliche Erkenntnisse hervorbringen und der Forschung dienen, man sagt nicht umsonst "Mortui Vivos Docent" – 'die Toten lehren die Lebenden'.

Was passiert eigentlich mit einem Körper, wenn er stirbt?

Das Herz steht still, das führt dazu, dass die Organe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Als Erstes stirbt das Hirn ab, das passiert schon in den ersten drei bis fünf Minuten, danach folgen weitere Organe und Gewebe. Nach etwa 15 bis 30 Minuten entstehen die ersten Totenflecken am Körper, weil das Blut absinkt und sich sammelt, dann setzt die Leichenstarre ein – das alles passiert etwa in der ersten Stunde.

Und nach der ersten Stunde?

Danach beginnt der Körper, durch die Darmbakterien anzufaulen, die Schnelligkeit dieses Prozesses ist enorm von der Außentemperatur abhängig: In der Sauna würde man innerhalb von Stunden faulen, am Nordpol vielleicht gar nicht. In einem Raum mit etwa zwanzig Grad entwickelt die Leiche nach etwa zwei Tagen einen grünen Bauch, dann kommt es zur Gasbildung und die Hautschichten lösen sich ab.

Anhand all dessen müssten Sie ja den Todeszeitpunkt ziemlich gut bestimmen können?

Das wäre toll, aber leider sind viele Leichen stark verwest, da kann man gar nichts mehr sagen. Wenn der Rechtsmediziner sich im Fernsehen über eine Leiche beugt, einen Blick draufwirft und dann zu den Kollegen sagt: "Todeszeitpunkt 13.26 Uhr", ist das völliger Unsinn.

"In der Sauna würde man innerhalb von Stunden faulen, am Nordpol vielleicht gar nicht."

Was stimmt denn sonst noch nicht mit unseren TV-Rechtsmedizinern?

Was ich im Fernsehen nie sehe, ist, dass eine Obduktion von zwei Ärzten durchgeführt wird, dabei ist das in Deutschland Gesetz. Im Kölner "Tatort" werkelt immer der Rechtsmediziner alleine im Keller vor sich hin und weiß alles. Das ist fern jeder Realität. Obduktionen sind Teamarbeit. Und übrigens dürfen auch wir in Räumen mit Fenstern und Sonnenlicht arbeiten.

Und an Tatorten...

Nicht an Tatorten, an Fundorten – wenn wir ankommen, wissen wir ja noch gar nicht, was passiert ist. Aber auch diese Arbeit stellen Krimis seltsam dar: Während alle Beamten in Schutzkleidung da stehen, kommt der Rechtsmediziner mitten reinspaziert, am besten in seinen Alltagsklamotten, und macht sich schon mal an die Untersuchung. Als würde der Rechtsmediziner keine DNA verlieren oder Spuren zerstören. Im echten Leben bedeutet unser Beruf auch viel Warterei – wir sind immer die letzten, die den Raum betreten dürfen.

Trotz Filmfehler lieben viele Menschen genau diese Krimis und "True Crime". Können Sie sich das erklären?

Ich finde es interessant, dass es ein Bedürfnis nach diesen Geschichten gibt. Ich denke, der Reiz dabei ist vielleicht das "Memento mori", das Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit. Vielleicht will man einfach wissen, wie das ist.

Aber Sie selbst sind kein großer Krimi-Fan?

Ich lese gerne Krimis, trotz allem! Aber zum "Tatort"-Gucken komme ich meist gar nicht. Ich habe Zwillinge im Alter von dreieinhalb Jahren, da ist abends nicht immer Zeit mehr zum Fernsehen.

Durften die schon mal zu Papas Arbeitsplatz?

Ins Büro schon, aber natürlich nicht zu einer Obduktion. Es hat mich schon beschäftigt, wie ich ihnen meinen Beruf erklären soll, aber das hat sich letztlich von alleine ergeben. Nach über 13 Jahren Dienst in Berlin habe ich von den Kollegen zum Abschied ein Fotobuch geschenkt bekommen, in dem auch ein Bild von mir bei der Arbeit an einer Leiche war. Meinen Söhnen fiel es in die Hände und zwei Tage später verkündete der eine ganz überzeugt: "Papa ist Polizeiarzt. Der operiert Menschen, die noch nicht lange im Himmel sind" – besser hätte ich das eigentlich nicht sagen können.

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