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Interview

Therapeutin im Gespräch: So will sie Pädophile von Straftaten abhalten

Male pensioner sitting on bench and watching grandkids on playground, family
Pädophile schämen sich oft zu sehr, um Therapieangebote anzunehmen (Symbolbild).Bild: iStockphoto / Motortion
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Therapeutin im Gespräch: So will sie Pädophile von Straftaten abhalten

09.06.2020, 20:0210.06.2020, 14:55
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Der Missbrauchs-Fall in Münster schockiert Deutschland, doch solche Fälle sind nur die Spitze des Eisberges. Viele pädophile Menschen leben mit ihren Neigungen im Dunkeln, nur selten tauchen sie in therapeutischen Einrichtungen auf, um sich Hilfe zu holen. Doch es gibt diese Angebote.

Sarah Allard ist Therapeutin und arbeitet auch bei der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. Mit watson sprach sie über uneinsichtige Sexualstraftäter und Menschen, die unbedingt aufhören wollen, sich zu Kindern hingezogen zu fühlen.

watson: Wann gilt man überhaupt als pädophil?

Sarah Allard: Im ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) sind dazu vier klare Kriterien festgelegt, um Pädophilie als klinische Krankheit zu diagnostizieren. Erstens muss der Drang vorherrschen, durch Kinderkörper und jugendliche Körper sexuell erregt zu werden. Dieser Drang muss, zweitens, seit mindestens sechs Monaten bestehen. Drittens hat der Betroffene entweder schon eine entsprechende sexuelle Tat begangen oder den starken Wunsch danach. Und zuletzt muss die Person mindestens 16 Jahre alt sein und das Objekt seiner Begierde mindestens fünf Jahre jünger.

"Solche Patienten kann man nicht behandeln, deren einziger Antrieb ist es, für Nachschub zu sorgen, an Kinder zu kommen, die richten ihr Leben
danach aus."
Therapeutin Sarah Allard zu watson

Dem Klischee nach ist ein Pädophiler männlich, einsam, seltsam. Was ist dran?

Der Großteil der Pädophilen ist tatsächlich männlich. Aber man geht davon aus, dass etwa 20 Prozent weiblich sind. Das sind jedoch nur Schätzungen, da Frauen sehr viel seltener angezeigt werden. Das liegt zum einen daran, dass Mächen eher dazu aufgerufen werden, sich als Opfer zu melden und bei Jungs die Hemmschwelle größer ist, sich verletzlich zu zeigen. Zum anderen sind weibliche Übergriffe meist subtiler und werden als Wasch- oder Pflegeleistungen kaschiert. Bei männlichen Tätern geht es um Penetration, das fällt mehr auf.

Man muss die Gruppen aber auch insgesamt unterscheiden. Nur etwa 10 bis 20 Prozent aller Pädophilen fühlen sich ausschließlich zu Kindern hingezogen und können ansonsten keine sexuelle Befriedigung erleben. Der Großteil, die anderen 80 Prozent, haben eher Probleme damit, sich jemandem auf Augenhöhe sexuell zu nähern. Sie schaffen es einfach nicht, Kontakt aufzubauen und Erwachsene zu beeindrucken und wenden sich daher an Kinder. Ein großer Teil der Therapie besteht dann auch darin, ganz schlichte Fragen zu klären: Wie sieht eine Beziehung aus? Wie spreche ich mit einer erwachsenen Frau? Da gibt es Hoffnung für ein normales Sexualleben. Die anderen, die als "kernpädophil" bezeichnet werden, müssen sich damit abfinden, dass sie ihre Sexualität nie ausleben werden können. Das zu vermitteln ist in der Arbeit nicht leicht, denn das wollen die natürlich nicht hören. Die wollen zwar nicht ins Gefängnis, aber auch nicht auf Sex verzichten.

Wann wenden sich die Menschen an Sie?

Meistens, weil es einen Push von außen gab. Da hat die Ehefrau einen Chat entdeckt oder die Polizei steht schon vor der Tür. Um Schlimmeres zu verhindern, wird dann die Therapie aufgesucht. Oft spürt man richtig die Erleichterung. Einige wollen geradezu erwischt werden, weil ihr Doppelleben sie belastet. Dann muss erstmal die Scham abgebaut werden. Das ist der erste Schritt in der Therapie, damit man überhaupt offen reden kann. Denn die meisten wissen ja genau, dass ihr Verhalten Unrecht ist. Aber sie sagen, sie können nicht anders.

"Kognitive Verzerrungen, in denen sie sich sagen: 'Naja, hat dem Kind ja nicht geschadet' oder: 'Es wollte doch auch mal kuscheln.'"
Therapeutin Sarah Allard zu watson

Weiß das soziale Umfeld von den Neigungen?

Ganz selten. Wenn die Polizei vor der Tür steht, dann gibt es natürlich Fragen, aber oft wird das schnell wieder abgetan. Wenn die Patienten in einer Beziehung leben oder bei ihren Eltern heißt es dann knapp: "Die haben bei mir Bilder gefunden" und dann wird meist nie wieder darüber geredet. Die Angehörigen wollen sich damit nicht auseinandersetzen, ihren Partner oder das Kind vor die Tür setzen. Das ist allerdings problematisch, weil Totschweigen auch immer den Charakter einer Duldung hat.

Wieviele Pädophile werden straffällig?

Es gibt gar keine richtigen Zahlen dazu, wir gehen von einer enormen Dunkelziffer aus. Spektakuläre Übergriffe kommen in die Medien, das verzerrt das Bild ein wenig. Meistens kommt es gar nicht dazu, doch viele konsumieren Kinderpornografie, was ja genauso strafbar ist. Oder sie schaffen sich eine Grauzone – und schauen sich Unterwäschebilder von Kindern in Katalogen an. Da haben sie das Gefühl, das täte keinem weh, es ist aber trotzdem problematisch. Denn unser Hirn speichert ab, welche Bilder uns Glücksgefühle verschaffen, zum Beispiel bei einem Orgasmus. Und will die dann immer wieder haben. Daher muss der Konsum auch solch "harmloser" Bilder im besten Fall eingestellt werden.

Wie rechtfertigen Sexualtäter ihre Übergriffe denn vor sich selbst?

Man nennt das kognitive Denkverzerrung. Die reden sich das gut, um mit sich selbst leben zu können. Die Pädophilie ist ein Teil ihrer selbst, den die gar nicht haben wollen, deshalb kommt es zu diesen kognitiven Verzerrungen, in denen sie sich sagen: "Naja, hat dem Kind ja nicht geschadet" oder: "Es wollte doch auch mal kuscheln." Wir alle kennen, wenn man versucht Diät zu machen – und dann doch zur Schokolade greift. Da rechtfertigt man dann vor sich selbst: Es war ja nur ein Stück, dafür hab' ich ja auch gestern Sport gemacht und so weiter. Einige der Patienten erarbeiten sich diese Denkverzerrungen über Jahrezehnte und halten daran fest. Als Therapeut muss man da ganz neue Denkmuster aufbauen, das ist schwere Arbeit.

Wird das angezeigt, wenn ein Patient Ihnen von einer Straftat erzählt?

Grundsätzlich ist unser Angebot anonym, weil es niederschwellig sein soll. Die größte Angst der Patienten ist ja, dass das Umfeld etwas erfährt. Das heißt aber nicht, dass wir untätig da sitzen, wenn wir von möglichen Straftaten erfahren. Alles, was in der Vergangenheit liegt, müssen wir nicht anzeigen. Aber wenn wir das Gefühl von akuter Kindswohlgefährdung haben, weil es zum Beispiel Fantasien zu einem bestimmten Kind im Umfeld gibt, sprechen wir natürlich eindringlich mit dem Betroffenen, damit er sich fernhält, unter Umständen zum Beispiel auszieht. Bleibt er uneinsichtig, wird im Zweifelsfall auch das Jugendamt informiert. Klar fühlen sich die Patienten dann verraten. Nach einer Weile sind sie meist aber doch dankbar. Denn nicht nur das Kind wurde ja dadurch geschützt, sondern eben auch eine Straftat verhindert, sie müssen nicht ins Gefängnis. Es ist für alle besser, wenn es nicht zu Missbrauch kommt.

Was gilt denn bei Pädophilen als Therapieerfolg?

Kein Übergriff. Das ist das Ziel. Von den Kernpädophilen sind die meisten nicht übergriffig geworden, konsumieren aber Kinderpornografie. Auch das möchten wir nicht. In absoluten Härtefällen sagen wir, wenn es gar nicht anders geht, dann spiel' es in Gedanken durch, nur in Gedanken und nur selten. Das ist die allerletzte Option. Das ist auch nicht gut, weil es Glücksgefühle mit Kindesmissbrauch verknüpft. Man muss es dann aber leider in Kauf nehmen.

"Sie schaffen es einfach nicht, Kontakt aufzubauen und Erwachsene zu beeindrucken und wenden sich daher an Kinder."
Therapeutin Sarah Allard zu watson

Auch der Hauptverdächtige aus Münster war in Therapie, genützt hat es nichts. Was ist da schief gegangen?

Wir Therapeuten sind auf den Willen der Zusammenarbeit angewiesen. Wenn die Patienten sagen, es gibt in meinem Umfeld keine Kinder, dann müssen wir das glauben. Ein Therapeut fährt nicht in die Nachbarschaft und klingelt mal und überprüft. Es geht um eine sichere Vertrauensbasis mit dem Klienten, damit steht und fällt die Arbeit. Aber wenn die betroffene Person die Therapie gar nicht will, sondern nur eine Auflage vom Gericht hat, wird es schwierig. Gerade jemand, der schon öfter mit der Justiz zu tun hatte und auffällig war, weiß ja irgendwann, was er sagen muss, damit es Ruhe gibt. Da sind wir dann am Ende der therapeutischen Möglichkeiten.

Gibt es hoffnungslose Fälle?

Es gibt defintiv diese Fälle, die sind uneinsichtig, da hilft nichts mehr. Die entscheiden sich bewusst, dieses Leben zu führen. Solche Patienten kann man nicht behandeln. Deren einziger Antrieb ist es, für Nachschub zu sorgen, an Kinder zu kommen, die richten ihr Leben danach aus. Das sind zwar maximal ein Prozent derjenigen, die bei uns landen, aber es gibt sie. Da muss man sagen: Sämtliche Therapieansätze funktionieren nicht. Und das sind dann auch gerade die, die in den Medien landen.

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