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Nationalmannschaft: Ukraine-Taktik von Jogi Löw könnte künftig zwei Probleme lösen

Beim 3:1-Sieg der Nationalmannschaft gegen die Ukraine in der Nations League überzeugten Leon Goretzka (Nr. 18) und Robin Koch (rechts neben ihm) im Mittelfeld. Am Dienstag kann Deutschland mit einem  ...
Beim 3:1-Sieg der Nationalmannschaft gegen die Ukraine in der Nations League überzeugten Leon Goretzka (Nr. 18) und Robin Koch (rechts neben ihm) im Mittelfeld. Am Dienstag kann Deutschland mit einem Remis gegen Spanien den Gruppensieg (Liga A, Gruppe 4) holen. Bild: www.imago-images.de / Tilo Wiedensohler
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Dieser Taktikkniff von Jogi Löw könnte gleich zwei Nationalelf-Probleme lösen

16.11.2020, 16:4216.11.2020, 17:47
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Abstiegsängste wie noch vor zwei Jahren sind bei Bundestrainer Joachim Löw und seiner Nationalmannschaft aktuell kein Thema. Im Gegenteil: Nach dem 3:1-Sieg gegen die Ukraine und dem gleichzeitigen 1:1 der Spanier in der Schweiz am Samstag sind für Deutschland der Gruppensieg in der Nations League und die Teilnahme am Final-Turnier im Oktober 2021 greifbar.

Nebenbei hat sich das DFB-Team durch das zwölfte Spiel in Serie ohne Niederlage auch einen Platz im besten Topf für die in Kürze anstehende Auslosung der Qualifikationsgruppen für die WM 2022 in Katar gesichert.

Am Dienstag kann die Nationalelf nun mit einem Unentschieden im letzten Länderspiel des Jahres gegen Spanien (20.45 Uhr/ARD) Platz eins in Liga A (Gruppe 4) sichern. Löw reist mit dem DFB-Team am Montag nach Sevilla, dort steht das Duell der jeweils dreimaligen Europameister an.

Nationalmannschaft ist spätestens nach Sieg gegen Ukraine wieder voll auf Kurs

Der Bundestrainer ist mit seinem Umbruchteam nach vier verschenkten Siegen im September und Oktober wieder voll auf Kurs, sein Ton ist selbstbewusst: "Unser Anspruch ist es, nach Spanien zu fahren und zu sagen, wir wollen das Spiel gewinnen und nicht irgendetwas verteidigen. Wir spielen in Spanien nicht auf einen Punkt. Meine Maxime in der Vorbereitung auf ein Spiel ist immer, die Dinge so anzupacken, dass man eine Chance auf den Sieg hat", sagte Löw nach dem Spiel gegen die Ukraine.

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"Wir spielen uns immer besser ein", sagt Timo Werner (2.v.l.) vorm Nations-League-Topspiel Deutschland gegen Spanien. Bild: imago images / O.Behrendt

Die Hoffnung ist groß, dass das in der aktuellen Form auch klappen kann: Schon beim 1:1 im Hinspiel in Stuttgart Anfang September habe sein Team "ein sehr schnelles und intensives Spiel abgeliefert. In der letzten Minute haben wir das Gegentor hinnehmen müssen."

Wäre die deutsche Defensive damals in der sechsten Minute der Nachspielzeit etwas konzentrierter gewesen, dann wäre die Ausgangslage jetzt mit zwei Punkten mehr auf dem Konto noch besser.

Das mit den Gegentoren ist in jüngster Zeit so eine Sache in der Nationalelf. Im Freundschaftsspiel gegen die Türkei klingelte es dreifach im deutschen Tor, ebenso im Nations-League-Spiel gegen die Schweiz. Beide Spiele gingen am Ende 3:3 aus, es waren zwei beispielhafte Spiele für die Verfassung, die die Nationalelf zuletzt an den Tag legte: Vorne schon sehr top, hinten noch etwas flop. Das deutsche Torverhältnis in der Nations League von 10:7 spricht Bände.

Defensive Besserung in Sicht: Löws simple taktische Umstellung

Doch spätestens seit Samstag ist in dieser Hinsicht Besserung in Sicht. Stürmer Timo Werner, der gegen die Ukraine doppelt traf, sieht das DFB-Team jedenfalls auf einem guten Weg. Der Star vom FC Chelsea fasste es nach Abpfiff ganz gut zusammen: "Wir spielen uns immer besser ein. Vorne im Sturm sieht es schon ganz gut aus, hinten werden wir auch immer sicherer."

Die Nationalelf wirkte am Samstag in der Defensive tatsächlich stabiler als noch in den Partien davor. Das hatte vor allem damit zu tun, dass Jogi Löw einen taktischen Kniff anwendete, der auch ein Modell für die Zukunft mit Blick auf die anstehende Europameisterschaft sein könnte. Nach vielem Ausprobieren in der Abwehr mit Dreier- beziehungsweise Fünferkette und Viererkette scheint Löw einen Kompromiss aus diesen beiden Grundordnungen gefunden zu haben: Er zog den zentralen Innenverteidiger der Dreier-/Fünferkette einfach etwas weiter nach vorne zwischen Abwehr und Mittelfeld. Manchmal sind eben die einfachsten Lösungen die besten.

Robin Koch im Trikot der Nationalelf: Der 24-jährige gebürtige Kaiserslauterer machte gegen die Ukraine sein sechstes Länderspiel.
Robin Koch im Trikot der Nationalelf: Der 24-jährige gebürtige Kaiserslauterer machte gegen die Ukraine sein sechstes Länderspiel.Bild: www.imago-images.de / O.Behrendt

Was gegen die Ukraine auf dem Papier erst aussah wie das vom Bundestrainer favorisierte 3-4-3- oder 5-2-3-System, entpuppte sich auf dem Rasen als flexibles 4-1-2-3-System. Robin Koch, der im Freundschaftsspiel gegen Tschechien noch als zentraler Verteidiger überzeugte, fungierte dabei als eine Art Staubsauger zwischen der Vierer-Abwehr hinter und dem Zweier-Mittelfeld vor ihm. Koch war viel unterwegs, schaffte dadurch Anspielstationen und machte Passwege des Gegners zu, er räumte im Mittelfeld auf und konnte sich bedarfsweise auch schnell zwischen die Innenverteidiger zurückfallen lassen.

Der Ex-Freiburger, der seit diesem Sommer bei Leeds United spielt, war am Samstag quasi ein Hybrid aus defensivem Mittelfeldspieler und Innenverteidiger.

Das brachte dem Nationalteam mehr Stabilität in der Defensive. Der Sohn der Kaiserslauterer Manndeckerlegende Harry Koch bekam dafür ein großes Lob von Löw: "Vom Robin bin ich sehr angetan, man kann auch schon sagen sehr begeistert, seit er bei uns ist. Gegen Tschechien hatte er eine Topleistung als Innenverteidiger gebracht, fehlerlos, saubere Spielauslösung, klare Pässe, sehr zweikampfstark, sehr aufmerksam, kopfballstark."

Nicht nur die Defensive profitierte von Löws Idee: Ein Modell mit Zukunft

Doch nicht nur die Abwehr profitierte von Jogi Löws Aufstellungsidee sondern auch Leon Goretzka, dem der Bundestrainer ein "super Spiel" attestierte. Der Bayern-Star war ein Aktivposten im zentralen Mittelfeld, konnte durch Kochs Absicherung viele Wege nach vorn machen und dadurch auch zwei Tore vorbereiten. "Er ist mit dem Ball immer wieder mit viel Tempo und viel Zug ins Mittelfeld und in die Spitze gestoßen. Er hat das Spiel angetrieben und die Stürmer unterstützt. Er war im gesamten Spiel präsent", sagte Löw und war offensichtlich begeistert von Goretzka, der "auch in der Defensive" gut gearbeitet habe.

Soccer Football - UEFA Nations League - League A - Group 4 - Germany v Ukraine - Red Bull Arena, Leipzig, Germany - November 14, 2020 Germany's Leon Goretzka in action REUTERS/Annegret Hilse
Aus dem zentralen Mittelfeld stößt Leon Goretzka oft in den Strafraum vor. Durch die defensive Absicherung von Robin Koch konnte der Bayern-Star das gegen die Ukraine umso öfter tun. Bild: reuters / ANNEGRET HILSE

Diese taktische Aufstellung der Nationalelf mit einem zusätzlichen defensiven Mittelfeldspieler zwischen Viererkette und dem Zentrum könnte auch ein generelles Modell für die Zukunft sein. Zuletzt gab es viel Kritik am 3-4-3-System, da es nur zwei zentrale Mittelfeldspieler vorsieht. Dabei hat Deutschland auf keiner Position so viel Qualität wie auf dieser: Real Madrids Toni Kroos, Bayern Münchens Leon Goretzka sowie dessen aktuell verletzter Teamkollege Joshua Kimmich, Manchester Citys Ilkay Gündogan oder auch Borussia Mönchengladbachs Florian Neuhaus, der sich zuletzt in den Vordergrund spielte.

Mit dem 4-1-2-3-System und der darin neu geschaffenen Position vor der Abwehr scheint Löw gleich zwei Probleme gelöst zu haben: Seine Defensive steht dadurch offenbar auch als Viererkette stabil, außerdem kann er einen hochtalentierten deutschen Mittelfeldspieler mehr unterbringen und dadurch das Zentrum stärken. Wenn Joshua Kimmich zur EM 2021 wieder fit ist und auch Leon Goretzka sowie Toni Kroos in Form sind, kann es Löw sich eigentlich auch nicht erlauben, eines dieser drei Asse für einen Innenverteidiger zu opfern. Kimmich könnte dann bei der EM den Part übernehmen, den Koch beispielhaft gegen die Ukraine übernahm, während vor ihm sein FCB-Kamerad Goretzka für die Wucht nach vorne und Real-Star Kroos für die Finesse zuständig wären. Das ist aber alles noch ein paar Monate hin.

Deutschland gegen Spanien: Mit neuem System zurück zu alter Stärke?

Am Dienstag gegen Spanien kehrt erstmal Kroos, der gegen die Ukraine noch gelbgesperrt fehlte, in die Startelf zurück. Löw sprach ihm dafür eine Garantie aus. Fehlen wird hingegen Abwehrspieler Antonio Rüdiger wegen einer Gelbsperre. Für ihn dürfte der zuletzt überzeugende Robin Koch wieder in die Innenverteidigung rücken. Sofern der Bundestrainer bei vier Abwehrspielern und drei zentralen Mittelfeldspielern bleibt. Dort dürfte Löw dann neben oder hinter Kroos auf Gündogan und etwas offensiver Goretzka setzen. Vorne ist in Sevilla das Turbo-Trio Gnabry, Werner, Sané gesetzt.

Süle ist noch fraglich
"Er hat über Beschwerden geklagt, aber heute kann er trainieren", sagte der Bundestrainer am Montag bei der digitalen Pressekonferenz der Fußball-Nationalmannschaft in Sevilla über Niklas Süle. Die Entscheidung über einen Einsatz des 25-Jährigen vom FC Bayern München werde möglicherweise kurzfristig fallen.

Sollte Süle ausfallen, müsse Löw "improvisieren". Matthias Ginter und Robin Koch dürften angesichts der Personalprobleme sicher in der Startelf stehen. Weitere Innenverteidiger im Kader sind Jonathan Tah sowie die noch unerfahreneren Niklas Stark und Felix Uduokhai.​

Das Duell der ehemaligen Weltmeister Spanien und Deutschland ist auf jeden Fall ein Fingerzeig, wie weit das neuformierte DFB-Team auf dem Weg zurück zu alter Stärke wirklich schon ist. Es wird ein Härtetest.

Soccer Football - UEFA Nations League - Germany Training - RheinEnergieStadion, Cologne, Germany - October 12, 2020 Germany coach Joachim Low and Toni Kroos during training REUTERS/Wolfgang Rattay
Jogi Löw (l.) und Toni Kroos. Der Bundestrainer erteilte dem Star von Real Madrid eine Startelfgarantie gegen Spanien.Bild: reuters / WOLFGANG RATTAY

Für Löw hätte ein Sieg übrigens eine besondere Note. Spanien ist die letzte große Fußballnation, gegen die er in mehr als 14 Jahren als Bundestrainer noch kein Pflichtspiel gewinnen konnte. Mit dem neuen System, das künftig mehr Mittelfeldpower und mehr Defensivsicherheit verspricht, scheint die Chance gegeben, dass die Mannschaft ihrem Trainer im letzten Länderspiel des Jahres noch ein großes Geschenk machen kann.

(as/mit dpa und sid)

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