Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Eine Markthalle, irgendwo in Südosteuropa. Hier arbeitet Igor*. Stolz zeigt er seine beiden Stände, die er seit mehr als 12 Jahren betreibt. Die Auslage ist bis auf den letzten Quadratzentimeter gefüllt, an Stahlrohren hängt noch mehr Ware von Kleiderbügeln herunter, dahinter sitzt der Familienvater und lächelt zwischen einem halben Dutzend unausgepackter Kartons. Igor verkauft gefälschte Fußballtrikots – und sein Geschäft läuft exzellent.
Fußballtrikots will sich jeder Fan gönnen, doch sie sind längst zum Luxusgut geworden
Für ein neues Original-Replica-Shirt zahlt der Anhänger zur Bundesliga-Saison 2018/2019 gut 90 Euro im Handel – ohne Namensbeflockung, die für die meisten Fans noch dazu gehört.
Igor kann über diese Preise nur den Kopf schütteln:
Bei ihm kosten Fußballtrikots gut 20 Euro, "Freundschaftspreise für Stammkunden und Mengenrabatt nicht einbegriffen", ergänzt er. Das Besondere an Igors Ware: Sie ist selbst für Kenner auf den ersten Blick nicht als Fälschung zu erkennen.
Eingesticktes Logos, gewebtes Vereinswappen, grafische Details, Größentabelle samt Markennamen im Nacken – Igors Trikots haben fast alle Details, die ein Originalprodukt von adidas, Puma und Co. auch hat. Erst auf dem zweiten oder dritten Blick lassen sich vereinzelt schlampige Nähten finden. Nur das geringe Gewicht entlarvt Igors Trikots als Fälschung.
Es war ein langer Weg zu den Trikots, die er jetzt verkaufen kann, sagt Igor:
"Zu Beginn meiner Tätigkeit war die Qualität der Ware schrecklich. Damals war alles recht simpel, das Material war furchtbar, von den Vereinswappen ganz abgesehen. Aber zu dieser Zeit gab es nichts anderes, also war es für mich okay. Ich brachte auch diese Trikots an den Mann, weil es nicht besseres auf dem Markt gab."
Die Zeiten von "Real Madrit" und "adibas" seien vorbei, sagt er. Seit vier, fünf Jahre seien die nahezu perfekten Fälschungen nun schon im Umlauf.
"Ich bin sehr zufrieden mit der Qualität meiner Ware. Ich trage sie selbst beim Sport. Natürlich kann eines meiner Trikots nicht so gut sein wie ein originales, aber sie sind schwer in Ordnung. Sie sind atmungsaktiv, was ein riesiger Unterschied zu der Ware von vor 10-15 Jahren ist. Da waren die Trikots wie Plastiktüten. Sie klebten an der Haut, es war unmöglich in ihnen ernsthaft Sport zu treiben."
Die Ware, das lässt sich an der Verpackung und der Beschriftung der Pakete erkennen, stammt aus der Türkei und wird mit Hilfe von Mittelmännern an Verkäufer wie Igor vertrieben. Ob sie dort auch produziert wird, kann Igor uns nicht verbindlich sagen:
"Ich erhalte die Ware über Großhändler, die sie wiederum vom Fabrikvertrieb erhalten. Sie rufen mich an. Danach senden sie mir Fotos der verfügbaren Trikots und ich gebe meine Bestellung auf."
Der Endkunde, rechnet Igor durch, sei in dieser Prozesskette die fünfte Person, die das Trikot in den Händen hält.
Wie lange dauert es, bis er die Trikots an den Mann bringen kann?
"Sagen wir, Deutschland stellt sein neuen Heimtrikot vor: Von dem Tag, an dem das Trikot offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt wird, bis zu dem Tag, an dem ich es erstmals in der Hand halte, vergehen in der Regel 15-20 Tage."
Das haben wir adidas gefragt...
Oliver Brüggen, Pressesprecher beim deutschen Sportartikelgiganten adidas, dürfte über diese kurze Zeitspanne staunen. "Der Designprozess für ein Trikot startet rund vier Jahre vor einem Turnier", erklärt er auf Nachfrage. Der äußerst lange Entwicklungsprozess kann jedoch nicht die Antwort auf die Frage sein, warum der Verkaufspreis eines Herren-Fußballtrikots innerhalb der vergangenen 10-15 Jahre von knapp 60 auf 90 Euro angestiegen ist. Dazu sagt adidas:
"Auch die Beschaffungskosten sind in der jüngeren Vergangenheit gestiegen, etwa durch erhöhte Rohstoff-, Lohn- und Transportkosten. Um diese wachsenden Kosten auszugleichen, arbeiten unsere Produktentwickler daran, Produktions- und Vertriebsprozesse effizienter zu gestalten.
Sportmarketing-Experte Peter Rohlmann rechnet vor, dass die Produktion und der Transport eines Original-Fußballtrikots mit unter 9 Euro zu Buche schlägt, adidas sich mit jedem einzelnen Trikot aber einen Minimum-Umsatz von gut 40 Euro zusichert. So fließt je verkauftes Trikot ein Rohgewinn von circa 17 Euro sicher aufs Konto der Herzogenauracher. ("Berliner Morgenpost")
Was vielen nicht klar ist: Auch der jeweilige Verband oder Verein verdient pro produziertes Trikot: Bis zu 15 % des Verkaufspreises setzen sich aus Lizenzgebühren zusammen, die Hersteller wie adidas beispielsweise an den DFB zahlen müssen, um dessen Wappen überhaupt auf ihr Shirt packen zu dürfen. ("Berliner Morgenpost") Kosten, die im illegalen Geschäft der Trikotfälschungen wegfallen.
Warum adidas trotz der hohen Marge weiter in Niedriglohnländern wie Kambodscha produzieren lässt? Das Unternehmen belässt es bei einem knappen Allgemeinplatz:
Wie viel teurer würde ein Trikot mit Original-adidas-Materialien bei ihm im Verkauf ausfallen?
"Höchstens fünf bis zehn Euro. Für die Produzenten würde das keine große Kostenerhöhung bedeuten. Es ist doch so:
Es geht dem Kunden nicht ums Material, weder beim Original noch bei der Fälschung. Es geht ihm um die drei Streifen. Das weiß adidas genauso wie ich, der Fälschungen mit den drei Streifen teurer und besser verkauft bekommt."
Bedeutet das, es werden in naher Zukunft noch bessere Fälschungen, die sich den Originalen noch weiter annähern, erhältlich sein? Igor ist sich nicht so sicher – aus ökonomischen Gründen:
"Die Trikots, die momentan angeboten werden, sind schon von guter Qualität und wir können sie zu vernünftigen Preisen anbieten und weiterhin an ihnen verdienen."
Bei Igors Geschäft handelt es sich um Produktpiraterie. 2014 beschlagnahmte der deutsche Zoll 13.262 gefälschte Fußballtrikots. ("Ruhrnachrichten")
"Produktpiraterie ist ein weltweites Problem und nicht neu", sagt Oliver Brüggen. "Beliebte Marken oder Ideen wurden schon immer gerne kopiert und so lange es eine Nachfrage gibt – also bewusst Plagiate gekauft werden – wird es leider auch künftig einen Markt für Fälschungen geben." Durch die Zusammenarbeit von Unternehmen und Fahndern wird es auch für Igor immer schwieriger, ein breites Produktportfolio anzubieten.
"Die Großhändler haben immer öfter mit Lieferproblemen zu kämpfen. Das geben sie in Form von Preiserhöhungen an Leute wie mich weiter. Ich muss das schlucken und den Preis ebenfalls anziehen – was ich jedoch bei Stammkunden nicht so einfach machen kann." – Igor
Wie viel verdient Igor denn eigentlich an einem Fake-Trikot?
Über solche Dinge wird nicht gesprochen“, winkt er ab – eine Sache, die er mit adidas teilt.
"Ich habe es ja bereits angedeutet: Meine Marge ist sehr wankelmütig, da sie durch viele Dinge beeinflusst wird. Ich muss mit meinen Erlösen ja auch die Miete und den Strom für meine beiden Buden zahlen, die Fahrt- und Parkkosten zum Großhändler muss ich ebenso berücksichtigen. Des Weiteren handelt es sich hier um ein Saisongeschäft. Im tiefen Winter schließen wir und arbeiten überhaupt nicht. Wenn du all das einfließen lässt, ist meine Marge gar nicht so groß, wie man als Außenstehender im ersten Moment meinen würde.“ – Igor
Mit solchen Problemen muss sich adidas nicht herumschlagen. Für sie funktioniert das Trikotgeschäft längst unabhängig von Hochzeiten wie einer Weltmeisterschaft. Trotz des frühzeitigen Ausscheidens der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM rechnet Oliver Brüggen mit neuen Höhenflügen.
Igor wird beim Thema DFB-Team und WM schmallippiger:
"Ich habe damit gerechnet, dass Deutschland mindestens das Halbfinale erreicht und dementsprechend Ware bestellt. Jetzt sind sie jedoch bereits in der Gruppenphase ausgeschieden und ich sitze auf einem riesigen Haufen DFB-Shirts, die ich sicher nicht verkaufen kann, bis bessere Zeiten für die Mannschaft anbrechen. So ergeht es mir jedes Jahr, sei es durch Spielertransfers oder schlechtes Abschneiden. Große Teile der Ware, die ich nicht loswerde, verschenke ich dann an die Wohlfahrt."
Doch so ist das Geschäft mit der heißen Ware Fußballtrikots: Manchmal verbrennt man sich an ihr die Finger – so wie beim Wechsel Cristiano Ronaldos zu Juventus Turin. Plötzlich saß Igor auf einem riesigen Stapel für ihn als Verkäufer wertloser Real-Madrid-Trikots.
Igor fackelte nicht lange, rief seinen Mittelsmann an und bestellte eine neue Fuhre CR7-Trikot – diesmal mit dem Wappen von Juventus Turin. Während adidas mit Lieferproblemen zu kämpfen hat, konnte er wenige Tage später seine Auslage bereits mit den neuen Juve-Trikots dekorieren Nein, ein CR7 kann Igor so schnell nicht aus der Bahn werfen – dafür läuft sein Geschäft einfach zu gut.
*Name von der Redaktion geändert.