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Dietrich Schulze-Marmeling zur Corona-Krise: "Das System Profi-Fußball ist krank"

PARIS, FRANCE - MARCH 11: (FREE FOR EDITORIAL USE) In this handout image provided by UEFA, Jadon Sancho of Borussia Dortmund and his team mates warm up prior to the UEFA Champions League round of 16 s ...
Der BVB verlor das Geisterspiel beim französischen Fußball-Meister Paris Saint-Germain im Achtelfinale der Champions League. Mittlerweile liegt der Profi-Betrieb längst völlig flach.Bild: Getty Images Europe / UEFA - Handout
Interview

Corona-Krise: "Das System Profi-Fußball ist krank"

21.03.2020, 17:35
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Fußball ist die schönste Nebensache der Welt, so sagt man. Aktuell ist er aufgrund der Coronavirus-Pandemie tatsächlich zur Nebensache geworden. Zahlreiche Wettbewerbe stehen still, die Europameisterschaft hat die Uefa ins Jahr 2021 verschoben. Nichts geht mehr.

Man sagt aber auch, dass Fußball niemals nur ein Spiel und niemals nur ein Sport ist. Er ist Teil der Gesellschaft und Kultur, ein Medienereignis und Wirtschaftsfaktor. Oder wie Jürgen Klopp es mal gesagt hat: Der Fußball ist die wichtigste Sache unter den unwichtigen.

Mit der Klopp'schen Auslegung hält es auch Dietrich Schulze-Marmeling, wie er im Gespräch mit watson verriet, aber das nur am Rande. Der Buchautor, Jahrgang 1956, profilierte sich mit zahlreichen Büchern zur Geschichte des runden Leders und begreift Fußball nicht nur als Sport, sondern auch als gesellschaftliche Angelegenheit. Schulze-Marmeling beschäftigt sich intensiv mit der sozialen Seite des Volkssports.

Wir haben ihn gefragt, welches Bild der deutsche Profifußball aktuell abgibt, welche Auswirkungen die Corona-Krise noch auf den Fußball, wie wir ihn kennen, haben wird, und welche gesellschaftliche Rolle sowie soziale Verantwortung der Fußball in Zeiten von Corona einnehmen muss.

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Autor und Fußballexperte Dietrich Schulze-Marmeling bei der Präsentation seines Buches "Der Fall Özil".Bild: imago sportfotodienst / Michael Debets

Ein Gespräch über ein kaputtes System, das auf tönernen Füßen steht, und Fans, die im Gegensatz zu vielen Klubs schon verstanden haben, worauf es in Coronazeiten im Fußball ankommt.

watson: Herr Schulze-Marmeling, wie nehmen Sie die aktuelle Lage im deutschen Profifußball angesichts der Corona-Krise wahr?

Dietrich Schulze-Marmeling:
Das Gezappel um den letzten Spieltag war ja beschämend. "Dieses Wochenende spielen wir noch, aber nächste Woche hören wir auf." Es waren dann Fans der Bayern und des BVB, die klare Ansagen machten. Da entstand ein ganz furchtbares Bild vom Profifußball.

Wird der Spitzenfußball in der Corona-Krise seiner gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung gerecht?

Der Spitzenfußball diskutiert bisher kaum über seine soziale und kulturelle Bedeutung, sondern fast nur noch über seine wirtschaftliche Bedeutung und die daraus resultierenden Konsequenzen. Sofern es um die Existenz von Klubs geht, dies betrifft aber nicht solche der Größenordnung FC Bayern oder BVB, kann ich das verstehen. Da geht es um Arbeitsplätze.

"Der Fußball macht oft auf dicke Hose, um zu betonen, wie unersetzlich er sei"

Aber?

Was seine wirtschaftliche Bedeutung im Gesamtkontext anbelangt, überschätzt sich der Fußball gerne. Er macht oft auf dicke Hose, um zu betonen, wie unersetzlich er in ökonomischer Hinsicht sei. Aber wenn man sich die Gesamtumsätze der 1. und 2. Bundesliga ansieht, entspricht das, soweit ich weiß, in etwa dem der Haustierindustrie in Deutschland. Mit Banken, Dax-Unternehmen oder auch "nur" der Nahrungsmittelindustrie kann man das nicht vergleichen. Im gesamten Wirtschaftsleben ist der Fußball keine große Nummer.

Was könnten die Klubs denn besser machen?

Die Vereine müssen abseits der wirtschaftlichen Probleme ihre soziale und kulturelle Haltung deutlicher machen und diese auch kommunizieren: Wie gehen wir mit der Krise um? Wie ist der Stand der Dinge, was das Coronavirus betrifft? Was denken Trainer und Spieler über die Pandemie? Eigentlich ist das jetzt die große Zeit der Kommunikationsdirektoren und Social-Media-Experten. Aber bei vielen Profiklubs fehlt mir das noch ein bisschen. Die Öffentlichkeit bekommt den Eindruck, als ginge es nur um TV-Verträge etc. Sie könnten auch mehr soziale Kampagnen starten, die eventuell den Risikogruppen in der Gesellschaft helfen.

Inwiefern?

Da würde ich als Fußballverein jetzt einfach zu den Krankenhäusern und Verwaltungen hingehen, um zu fragen: Was können wir in dieser Situation für euch, für die Gesellschaft tun? Wo können wir helfen?

"Typisch: Die Fans gehen voran"

Viele Fans gehen da mit gutem Beispiel voran, bieten beispielsweise an, für Bedürftige einkaufen zu gehen oder Botendienste zu erledigen…

Ja, typischerweise gehen die Fans voran. In Osnabrück haben sie jetzt auch Transparente vor einem Krankenhaus aufgehangen, als Danksagung an die Menschen, die dort arbeiten und etwas für die Gesellschaft leisten. Das ist grandios.

Haben die Fans als einzige im Fußballgeschäft schon verstanden, worauf es jetzt ankommt?

Man könnte sogar sagen: Nicht zum ersten Mal haben sie besser verstanden, worauf es ankommt. Man darf natürlich nicht alle Fan- oder Ultraszenen über einen Kamm scheren, da gibt es erhebliche Unterschiede, auch was die politische Orientierung angeht und so weiter. Aber ich beobachte immer wieder, dass die Fanszenen so ein bisschen das soziale Gewissen des Fußballs sind.

Wie meinen Sie das?

Anfang des Jahres gab es den Auschwitz-Erinnerungstag, und viele Aktionen, Kampagnen und Choreografien in den Stadien gingen in diesem Zusammenhang ja von den Ultra-Gruppierungen aus. Und die wissen aktuell offenbar auch, wie man sich in dieser Zeit sinnvoll betätigt. Da sind sie den Vereinen manchmal um einiges voraus. Mehr Empathie, eine gute Antenne dafür, was mit Blick auf die Gesellschaft angesagt ist.

"Fußballer sind nicht so ignorant, wie häufig unterstellt wird"

Kommen wir von Fans, Vereinen und Funktionären zu den Fußballstars. Aktuell gibt es die sogenannte #StayAtHomeChallenge, eine Social-Media-Aktion, bei der Fußballer zuhause mit Klopapierrollen jonglieren. Finden Sie, dass die Stars ihre Reichweite eher anderweitig nutzen sollten?

Es gibt ja durchaus Fußballer, die sich über den Tellerrand des Profigeschäfts hinaus Gedanken machen. Viel mehr als früher. Ich habe gelesen, dass Leon Goretzka und Joshua Kimmich gemeinsam eine Million Euro gespendet haben im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Klasse. Auch die Aktion der Gladbacher Spieler, die angekündigt haben, für die kommenden Monate auf einen Teil ihres Gehalts zu verzichten, finde ich groß. Ich glaube, Fußballprofis können da schon etwas bewirken, das tut dem Fußball gut, wenn die sich positionieren, in welcher Form auch immer. Und Fußballer sind nicht so ignorant, wie häufig unterstellt wird.

Die deutsche Nationalelf hat 2,5 Millionen Euro gespendet. Ist das in Ihren Augen verhältnismäßig genug?

Ich finde das immer ein bisschen schwierig mit der Verhältnismäßigkeit. Das ist eine typisch deutsche Diskussion. Wenn die 2,5 Millionen Euro spenden, ist das doch erstmal super. Das Geld ist jetzt da, wo es gebraucht wird und die Spieler geben es nicht anderweitig aus. Ich möchte gar keine Debatte darüber haben, ob es nicht vielleicht auch 25 Millionen hätten sein können. Dass die Fußballer jetzt aktiv werden, das ist doch zu begrüßen.

"Das System ist krank, jetzt hat eine Pandemie es an die Wand gefahren"

Bleiben wir beim Geld. Viele Klubs stehen nun unter großem ökonomischen Druck. Muss man angesichts der Corona-Krise jetzt das gesamte System Profifußball in Frage stellen? Bekommen wir aktuell die Maßlosigkeit aufgezeigt, die sich in den vergangenen Jahren im Geschäft etabliert hat?

Ja, das System ist krank, jetzt hat eine Pandemie es an die Wand gefahren, womit niemand gerechnet hat. Wir stellen jetzt fest, dass der Profifußball auf tönernen Füßen steht. Das System ist alles andere als krisenfest. Dieses System hat der Profifußball selbst konstruiert, jetzt merkt er die negativen Auswirkungen: die Eskalation der Gehälter, die Abhängigkeit von Fernsehgeldern und das Pokern um diese. Jetzt brechen möglicherweise Gelder weg, und dies sollte man zum Anlass für eine "Systemdebatte" nehmen.

Auf der DFL-Pressekonferenz Anfang der Woche hatte DFL-Chef Christian Seifert den vorläufigen Abbruch der 1. und 2. Bundesliga bekanntgegeben und dabei eingestanden: "Unser Fußball ist ein Produkt." Die Erkenntnis dabei: Wenn die ganze Kultur, das Kerngeschäft der 90 Minuten Fußball, nicht mehr da ist, dann bricht auch alles andere weg. Erdet die Corona-Krise den Fußball jetzt vielleicht auch ein bisschen?

Also ich hoffe es, dass sich der Profifußball wieder erdet. Denn er ist ein bisschen zu groß geworden. Man muss nun erkennen: Der Fußball ist primär eine analoge Angelegenheit, keine digitale. Man braucht diese Kultur, dieses kollektive Erlebnis im Stadion. Und wenn das, wie jetzt gerade, wegbricht, hat man nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen atmosphärischen Schaden.

"Es sollte auf keinen Fall so weitergehen, wie es jetzt ist"

Und dieser atmosphärische Schaden hat wiederum auch ökonomische Folgen...

Genau. Zum Beispiel hat Borussia Dortmund eine sportlich wunderbare Mannschaft, aber zu dieser gehört auch das volle Stadion und die Südtribüne. Das macht ja auch erst die Übertragungen aus dem Stadion zum Erlebnis. Ich hoffe, dass die Diskussion jetzt offen und schonungslos geführt wird. Es braucht jetzt Personen, die den Fußball reformieren und umbauen.

Wie der Fußball sich nach der Corona-Pandemie langfristig ändern könnte, kann man noch nicht sagen. Aber kann man sagen, dass er an einem Punkt angelangt ist, an dem er der Gesellschaft wieder mehr zurückgeben und soziale Verantwortung zeigen muss?

Ja, genau. Das ist gut gesagt. Wir wissen insgesamt noch nicht, wie die Pandemie die Gesellschaft, Ökonomie, Kultur und auch den Profisport verändern wird. Das Geraune ist groß, dass nichts mehr so weitergehen kann, wie es jetzt ist. Meine Haltung ist: Es sollte auf keinen Fall so weitergehen, wie es jetzt ist. Da müssen wir uns in jeder Hinsicht grundsätzliche Gedanken machen.

Auf Ihrer Webseite steht ein schönes Zitat: "Was auf dem Fußballplatz passiert, hat große Bedeutung, nicht so wie Essen und Trinken, sondern die Bedeutung, die für manche Leute Lyrik hat und für andere Alkohol. Er nimmt von der Persönlichkeit Besitz." Könnte man sagen, Fußballfans und Akteure sind jetzt erstmal auf Entzug?

Ja, das kann man so sagen. Aber vielleicht ist es auch so, dass die Zwangspause dem Fußball ganz gut tut, da wir einige hitzige Debatten in den vergangenen Monaten hatten. Vielleicht kann man die Zeit nutzen, um einige Sachen jenseits des Tagesgeschäfts in Ruhe zu diskutieren und Entwürfe für die Zukunft zu formulieren. Wobei ich schon sehe: Es wird zurzeit zwar kein Fußball gespielt, aber der Stress ist enorm. Niemand weiß wirklich, wann es weitergeht. Und dann kommt eben noch das "Wie" hinzu.

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