In der fast 57-jährigen Geschichte der Bundesliga sind Geisterspiele ein Novum. Wegen der rasanten Ausbreitung des Coronavirus wird es in der ersten Liga nun die ersten Spiele ohne Zuschauer geben.
Das Derby zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln wird am Mittwoch (18.30 Uhr/Sky) als erstes Geisterspiel in die Geschichte der Bundesliga eingehen. Auch das Revierderby am Samstag (15.30 Uhr/Sky) Borussia Dortmund gegen Schalke 04 findet im Signal Iduna Park ohne Publikum statt.
Der BVB muss sich auch schon am Mittwoch beim Auswärtsspiel gegen Paris Saint-Germain im Achtelfinale der Champions League auf leere Tribünen einstellen.
Der Fußball lebt eigentlich von seinen Emotionen, die zum großen Teil durch die Gesänge und die Stimmung der Fans im Stadion entfacht werden. Sie heizen an und provozieren. Doch vor leeren Rängen zu spielen, bedeutet, dass es im Stadion leise sein wird.
Wie bereitet man eine Mannschaft psychologisch auf so eine Geisterkulisse vor? Wie fühlt sich ein Spiel ohne Publikum für die Profis an, wenn der 12. Mann fehlt? Können sie ohne Fans, ohne emotionalen Einfluss überhaupt ans Maximum ihrer Leistung gehen?
Kathrin Seufert: "Grundsätzlich ist es dadurch, dass es so kurzfristig ist, ein schwieriges Los, das die Vereine da gezogen haben. Auch psychologisches Training braucht seine Zeit, damit es wirkt. Das ist nichts anderes als beim Krafttraining.
Der 1. FC Köln hat, wie ich gelesen habe, im leeren Stadion trainieren lassen, um die Spieler darauf vorzubereiten. Aber final kann man die Spieler, glaube ich, nicht vorbereiten. Es ist eben eine Abweichung ihrer normalen Arbeit. Bestenfalls versucht man, Positives aufzuzeigen: Die Spieler verstehen die Kommandos untereinander besser, wenn die Geräuschkulisse geringer ist.
Grundsätzlich würde ich die Mannschaft fragen, was sie vor so einem Geisterspiel beschäftigt. Vielleicht könnte man sogar vorm Anpfiff in der Kabine Fangesänge abspielen, um die Mannschaft mit Stadionatmosphäre zu pushen."
René Paasch: "Grundsätzlich ist wichtig, eine Plattform zu bieten und alle im Team zu Wort kommen zu lassen, was sie darüber denken, wie sie die Situation sehen, – aber natürlich auch, welchen Stellenwert es für jeden einzelnen hat: Jeder Fußballer sieht die Zuschauer anders. Man sollte das Thema vorm Spiel aber auch nicht zu groß aufhängen, weil es dann zu sehr in den Köpfen ist."
Andreas Meyer: "Der Sportler befindet sich in einer recht ungewohnten Situation, eine Wettkampfleistung erbringen zu müssen, ohne dass es sich nach einem Wettkampf anfühlt. Ein Vorweggreifen der Situation halte ich für sinnvoll, um eine Strategie zu entwickeln, die den Sportler dabei unterstützt, trotzdem in einen freudigen, emotional angeregten Zustand zu kommen. Denn Wettkampf bedeutet häufig auch Spannung, eine körperliche und emotionale Erregung.
Einiges dieser Spannung wird sicherlich durch das Publikum erzeugt und muss in diesem Falle selbst aufgebaut werden. Um vorbereitet in ein Geisterspiel zu gehen, können die Sportler beispielsweise versuchen, diese Situation in der Vorstellung vorwegzunehmen und somit nicht unmittelbar vor dem Spiel mit dieser ungewohnten Situation konfrontiert zu werden."
Kathrin Seufert: "Das ist schwierig vorherzusagen. Das größte Problem ist die Abweichung von den üblichen Rahmenbedingungen. Die Fans sind sicherlich ein großer Faktor. Ich bin selbst Fan und gehe regelmäßig ins Stadion, aber ich würde ihnen jetzt keine übermäßigen Wert zukommen lassen wollen. Klar, die Zuschauer erzeugen eine extrinsische Motivation.
Ich sehe die größere Gefahr darin, dass so ein Geisterspiel Testspielatmosphäre bekommen könnte und dadurch die zwingende Notwendigkeit verloren geht, das Spiel zu gewinnen und die Spannung zu halten. Es geht hier aber um ultra-individuelle Prozesse und die Reaktionen können in einer sehr großen Bandbreite liegen, was den Umgang mit der Situation angeht."
René Paasch: "Wir wissen, dass Sportler – das ist überhaupt nicht negativ gemeint – narzisstische Züge haben. Sie sind extrem von ihrer Leistungsfähigkeit überzeugt. Das wird durch Zuschauer nochmal verstärkt. Der eine braucht das ganz besonders, die Situation des Lärms, des Anfeuerns.
Dann gibt es aber auch Sportler, die sagen, dass sie die Fans im Stadion gar nicht so sehr wahrnehmen, weil sie sich so sehr auf ihr Spiel zu konzentrieren. Ab dem Moment, in dem ein Profi auf dem Platz steht, und es um Punkte, Ergebnisse, Geld geht, können viele Profis das sicher auch ausblenden, dass keine Fans da sind. Die können dann auch ohne Zuschauer großartigen Fußball spielen."
Andreas Meyer: "Das wird sehr unterschiedlich sein. Ist ein Sportler beispielsweise sehr misserfolgsängstlich, so kann es für ihn sogar ein Vorteil sein, nicht vor Publikum zu spielen und dem Druck der Zuschauer ausgeliefert zu sein. Sehr viele Sportler werden allerdings von dem 'Feuer' der Fans angesteckt und zehren davon.
Rational betrachtet haben die Fans keinen direkten Einfluss auf die Leistungserbringung der Sportler. Ich sehe die größte Herausforderung im Bereich der Aktivierung. Wir sprechen da auch von Spannung oder Erregung. Es gibt für Sportarten optimale Erregungszustände, die natürlich individuell auch nochmal deutlich voneinander abweichen könnten.
Um es deutlich zu machen: Ein Dartspieler benötigt grundlegend ein sehr niedriges Erregungsniveau, ein Karatekämpfer hingegen ein deutliches höheres. Im Fußball wird ein mittelmäßig bis hohes Erregungsniveau leistungsfördernd sein."
Kathrin Seufert: "Damit tue ich mich schwer. Für die Heimmannschaft bleibt es das eigene Stadion, die eigene Kabine, es bleiben die eigenen Abläufe. Die Spieler kennen dort alles, sie haben keine Anreise, können in ihrem eigenen Bett schlafen."
René Paasch: "Ich glaube, alles hängt vom Beginn eines Geisterspiels ab. Nehmen wir als Beispiel den FC Bayern München. Wenn das Team nicht erfolgreich in so ein Heimspiel ohne Zuschauer starten sollte, dann kann sich das möglicherweise im Laufe der Partie verfestigen. Aber wenn ich mir die Profis von Bayern so ansehe: Das sind hungrige Profis, die sind leistungsfähig, die werden alles für ihr Ziel Meisterschaft tun, das wird von jedem auf dem Platz gelebt."
Andreas Meyer: "Das halte ich für schwierig zu beurteilen. Generell geht es hier viel um Glaubenssätze der Spieler. Wenn sie davon ausgehen, dass dies ein Nachteil für sie ist, wird das bestimmt Einfluss auf ihre Leistung nehmen können."
Kathrin Seufert: "Ich sehe da eher den Vorteil bei der Auswärtsmannschaft, weil sie sozusagen nicht das gegnerische Territorium, eine fremde Festung betritt."
René Paasch: "Wir reden in diesem Zusammenhang von Doppeldruck. Es gibt den Druck, der beim Spieler und im Team entsteht sowie den medialen Druck und den der Fans, der von außen kommt. Das bewertet jeder Spieler unterschiedlich.
Gut möglich, dass ein Spieler vor leeren Rängen plötzlich frei aufspielt. Meinetwegen beim Elfmeter: Im Training trifft der Spieler problemlos – in der realen Situation, in der 89. Minute, wenn es um alles geht, sagt der Spieler plötzlich, dass es eine andere Situation ist. Vieles findet auf der Kopfebene statt. Es gibt ein Forschungsergebnis von der Uni Münster, dass es nachweislich keinen Effekt gibt, was den Einfluss der Fans auf die Leistungsfähigkeit einer Mannschaft angeht."
Andreas Meyer: "Natürlich sind auch positive Effekte möglich. Durch fehlende Zuschauer sinkt ein unmittelbarer Druckfaktor vor Ort. Einige Sportler reagieren bis zu einem gewissen Maß positiv auf Druck, die Leistung anderer wiederum bricht unter Druck schneller zusammen. Man kann das also nicht pauschalisieren."
(as)